Laryngorhinootologie 2001; 80(1): 61-62
DOI: 10.1055/s-2001-11035
AKTUELLE HABILITATION
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Klassifizierung komplexer Signalmuster mit künstlichen neuronalen Netzen in der Hör- und Stimmdiagnostik

R. Schönweiler
  • Klinik und Poliklinik für Phoniatrie und Pädaudiologie (Direktor: Prof. Dr. M. Ptok), Medizinische Hochschule Hannover
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
31. Dezember 2001 (online)

Wie in allen medizinischen Fachdisziplinen, so werden auch in der Hör-, Stimm- und Sprachdiagnostik Verfahren eingesetzt, bei denen sich die Bewertung der Ergebnisse im wesentlichen auf individuelle Erfahrungen der Untersucher stützt. Damit wird die potentielle Aussagekraft subjektiv und objektiv gewonnener Untersuchungsbefunde nicht immer vollständig ausgeschöpft. Deshalb wurde die Hypothese geprüft, dass sich mit multivariaten statistischen Verfahren sowie mit künstlichen neuronalen Netzen, d. h. mit lernfähigen Computerprogrammen aus dem Umfeld der künstlichen Intelligenz, „verborgene” Informationen diagnostisch erschließen lassen.

Dazu wurde im Teil I der Arbeit ein automatisches Klassifikationsverfahren für späte akustisch evozierte Potentiale entwickelt, die von der American Speech-Language-Hearing Association (ASHA) zur Sicherung der Diagnose auditiver Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen empfohlen werden. Dabei wurden verschiedene subjektive Hörverarbeitungs- und Wahrnehmungstests in Verbindung mit Potentialableitungen an gesunden Probanden (n = 14), an mäßig (n = 16) und schwer auditiv verarbeitungs- und/oder wahrnehmungsgestörten Schulkindern (n = 16) durchgeführt. Es wurde gezeigt, dass mit sog. selbstorganisierenden topographischen Merkmalskarten eine Klassifikation des Amplitudenmusters der Potentiale N1, P1 und N2 als gesund oder krank mit einer Genauigkeit von 82 - 87 % möglich und einer subjektiven Beurteilung durch Experten überlegen war. Die Vorteile gegenüber einer herkömmlichen Klassifikation liegen darin, dass 1. bei der Auswertung der Potentiale keine Erfahrungen seitens der Untersucher notwendig sind, 2. andere Kliniken und Praxen in die Lage versetzt werden, das Verfahren häufiger als bisher anzuwenden und 3. eine Objektivierung der Diagnose auditiver Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen im Hinblick auf eine zu verordnende Übungstherapie erleichtert wird [5].

Im Teil II der Arbeit wurde durch Hörversuche, auditive Rückkopplungsversuche und akustische Analysen nachgewiesen, dass gesunde Säuglinge - entgegen bisheriger Lehrmeinung - bereits vor dem 8. Lebensmonat zu einer hörkontrollierten Stimmbildung (sog. audiophonatorische Rückkopplung) in der Lage sind. Außerdem konnten die verschiedenen stimmlichen Muster normalhöriger (n = 24) und hochgradig schwerhöriger Säuglinge (n = 18) durch sog. Learning-Vector-Quantization-Netze mit einer Genauigkeit von bis zu 86 % erkannt werden [2]. Der Nachweis der bisher nicht bekannten audiophonatorischen Rückkopplung bei Säuglingen jünger als 8 Monate wurde durch aktuelle Arbeiten anderer Autoren bestätigt; dabei wurde nicht nur nachgewiesen, dass gesunde Neugeborene Sprachlaute auditiv differenzieren [3] [6], sondern sogar imitieren können [1]. Diese neuen Erkenntnisse zur frühen Hör- und Sprachentwicklung unterstreichen die unbedingte Notwendigkeit einer verbesserten Früherkennung angeborener Schwerhörigkeiten (z. B. durch ein universelles Hörscreening) und deren sofortige apparative Versorgung möglichst schon vor dem 8. Entwicklungsmonat (gefördert durch Mittel der DFG).

Im Teil III der Arbeit wurde ein neues Klassifikationsverfahren für Heiserkeiten auf der Basis akustischer Merkmalsextraktion in Verbindung mit sog. Resilient-Propagation-Netzen entwickelt, dessen Ergebnisse zu 85 % mit subjektiven auditiven Bewertungen durch Experten korrespondierten. Das Verfahren soll eingesetzt werden 1. als Interpretationshilfe für apparativ gewonnene akustische Messwerte bei heiseren Patienten, 2. zur Klassifizierung von Heiserkeiten analog zum RBH-System und 3. zur Qualitätssicherung subjektiver bzw. auditiver Stimmbewertungen [4].

Literatur

  • 1 Kuhl P, Meltzoff A N. Infant vocalizations in response to speech: vocal imitation and developmental change.  J Acoust Soc Am. 1996;  100 1-14
  • 2 Möller S, Schönweiler R. Analysis of infant cries for the early detection of hearing impairment.  Speech Commun. 1999;  28 175-193
  • 3 Pegg J E, Werker J F. Adult and infant perception of two English phones.  J Acoust Soc Am. 1997;  102 3742-3753
  • 4 Schönweiler R, Wübbelt P, Schöler C, Ptok M. Multidimensional signal analysis in relation to subjective rating of voice quality: Classification results using multivariate statistics and neural nets. In: Wittenberg T, Mergell P, Tigges M, Eysholdt U (Hrsg) Advances in quantitative laryngoscopy, Vol. 2. Göttingen; Abteilung Phoniatrie der Universität Göttingen 1997: 151-158
  • 5 Schönweiler R, Wübbelt P, Tolloczko R, Rose C, Ptok M. Classification of passive event related potentials using discriminant analysis and self organizing feature maps.  Audiol Neurootol. 2000;  5 69-82
  • 6 von Ooijlen B, Bertoncini J, Sansavini A, Mehler J. Do weak syllables count for newborns?.  J Acoust Soc Am. 1997;  102 3735-3741

Priv.-Doz. Dr. med. Rainer Schönweiler

Klinik und Poliklinik für Phoniatrie und Pädaudiologie Medizinische Hochschule Hannover

Carl-Neuberg-Straße 1 30625 Hannover

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