Z Sex Forsch 2016; 29(04): 314-317
DOI: 10.1055/s-0042-121631
40 Jahre Foucaults „Sexualität und Wahrheit“
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Foucault und die Verschwiegenheit

Thorsten Benkel
a   Universität Passau, Lehrstuhl für Soziologie
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Publication Date:
22 February 2017 (online)

Für Verena

Worüber man nicht sprechen kann, das muss man analysieren. So funktioniert die Wissbegierde in den Wissenschaften, so bastelt man aus Verhältnissen einen Diskurs. Neugier, vornehm: Erkenntnisinteresse, schafft eine Parallelwelt, die des gelehrten Besprechens. Schlägt man sich mit weltanschaulichen Fragen herum, dominieren die Begründungen. Betritt man aber das Palladium der Wissenschaft, tritt an deren Stelle die Beschreibung – und in ihrem Gefolge die Analyse, die u. a. berichten soll, weshalb beschrieben werden konnte, was zuvor beschrieben wurde.

Geht es um das Feld der Sexualität, wurde innerhalb der recht jungen Unterdisziplin scientia sexualis lange Zeit nicht gesehen, dass man prinzipiell nicht sieht, was man nicht sieht (vgl. Luhmann 1997: 1110). Sex schien eine „äußerliche“, eine Handlungsangelegenheit zu sein, die man studieren zu können glaubte wie eine bestimmte Spezies im Tierpark – durchaus mit Rückschluss auf das Innenleben. Michel Foucault hat dieser eigenwilligen Sphäre seine Überlegungen zu Sexualität und Wahrheit gewidmet. Vor allem der erste Band dieser „Probebohrungen“ (Foucault 1977: 7) ist ein, wenngleich schlankes, Grundlagenwerk, das sich der Transformation sexuellen Verhaltens in Wissensgegenstände widmet. Dieser merkwürdige Gang durch die „Eiswüste der Abstraktion“ (Walter Benjamin) lenkt Foucault auf die Fährte der Organisationsbedingungen eines Erkenntnisbereiches, der irgendwann „Sexualität“ getauft worden ist und in dem sich Macht, Wissen, Wahrheit und Beichte ineinander verknoten.

Und heute, 40 Jahre später – wie steht es um den Gehalt von Foucaults Schrift? Konkreter gefragt: Lässt sich seine Darstellung der Entwicklung von Diskurspraxen des Sexuellen beispielsweise dem studentischen Nachwuchs anders denn als historische Untersuchung verkaufen? Müsste ein Rückblick auf die Ausdifferenzierungen und Abschweifungen der wissenschaftlichen Durchdringung am sexuell aktiven Subjekt und, das ist schon schwieriger, am Sex selbst nicht zwangsläufig anders geschrieben werden, ausgehend von den neuen Wahrheiten und (Neo-)Sexualitäten (Sigusch), die gerade jetzt entstehen, die gelebt und verteidigt werden? Und überhaupt: Das Schlagwort Sexualität vermittelt prima vista ein halbwegs klares Bild, das Schlagwort Wahrheit ein wesentlich diffuseres. Wie könnte eine zeitgenössische Kombination diese Felder zusammenführen? Schließlich: Wenn die Taktiken der performativen Wissensaneignung, die Foucault den vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten abliest, sich stetig verändert haben, welche genealogisch rekonstruierbaren Auswüchse haben dann die Jahrzehnte seit Erscheinen des „Willens zum Wissen“ (1977) ausgebildet? Die nachfolgende Skizze kann diese Fragen nicht beantworten. Aber manchmal ist die Frage ohnehin spannender als das, was auf sie folgt.