Aktuelle Neurologie 2016; 43(08): 493-500
DOI: 10.1055/s-0042-116143
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© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Epilepsie: Anfallstagebücher im klinischen Alltag und in der Forschung

Epilepsy: Seizure Diaries in Research and Clinical Practice
C. Hoppe
1   Klinik für Epileptologie, Universitatsklinikum Bonn, Bonn
,
C. E. Elger
1   Klinik für Epileptologie, Universitatsklinikum Bonn, Bonn
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
27. September 2016 (online)

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Zusammenfassung

Für die Steuerung der Pharmakotherapie einer medikamentenresistenten Epilepsie ist der Neurologe auf den Bericht des Patienten über dessen Anfallssituation notwendig angewiesen. Patienten sind daher angehalten, einen Anfallskalender zu führen. Auch aus klinischen Studien sind Anfallskalender kaum wegzudenken. Mehrere EEG-gestützte Validierungsstudien aus den letzten zwei Jahrzehnten haben jedoch übereinstimmend gezeigt, dass Epilepsiepatienten einen wesentlichen Teil (30–70%) ihrer Anfälle nicht dokumentieren. Vor allem Anfälle aus dem Schlaf sowie komplex-partielle Anfälle werden in erheblichem Umfang nicht berichtet. Viele Patienten erkennen selbst unmittelbar nach einem Anfall nicht, dass sie gerade einen Anfall erlitten haben. Diese Beobachtung legt nahe, dass eine infolge des Anfalls eingeschränkte Bewusstheit für das Anfallsgeschehen die entscheidende Ursache für die fehlende Validität der Patientenaufzeichnungen darstellt. In der klinischen Praxis sollte daher insbesondere eine vom Patienten berichtete Anfallsfreiheit zunächst kritisch betrachtet werden. Eine berichtete Anfallshäufigkeit muss im Durchschnitt um den Faktor 1,4–3,0 nach oben korrigiert werden. Für die klinische Forschungspraxis sind die Folgen noch nicht absehbar. Die Validität der meistgenutzten Therapieergebnismaße – Anfallsfreiheit, %-Reduktion der Anfallshäufigkeit im Verlauf der Studie sowie Responderrate (%-Patienten mit≥50%-Reduktion ihrer Anfallshäufigkeit) – hängt jedenfalls von der fragwürdigen Annahme ab, dass die Qualität der Anfallsdokumentation durch die Patienten im Verlauf der Studie konstant bleibt und durch die Studienmedikation nicht beeinflusst wird. Derzeit werden verschiedene physiologische Ansatzpunkte für eine praktikable automatische Anfallsregistrierung evaluiert. Patienten zeigten sich bei einer Befragung an einer solchen neuartigen Technologie durchaus interessiert, vorausgesetzt dass das Verfahren wie moderne Fitnessarmbänder unauffällig angewendet werden kann.

Abstract

Patient seizure status reports are critical for the therapeutic management of drug- resistant epilepsy. For this purpose, seizure diaries have been established for use in clinical practice and also research. Several studies from the last two decades, however, showed that patients fail to document a substantial percentage (30–70%) of their seizures. In particular, nocturnal and complex-partial seizures are underreported. Many patients do not become aware of a seizure even shortly thereafter. This observation provides evidence for seizure unawareness as induced by the seizure itself as the most important cause for the lack of validity of patient seizure records. In contrast, noticed seizures are documented carefully. In clinical practice, especially patient-reported seizure freedom must be evaluated critically. Reported seizure frequencies must be corrected by a factor of 1.4–3.0 on average to achieve a more realistic estimate. Implications for clinical research are not fully clear yet. In any case, the validity of the most established therapy outcome measures, namely seizure freedom, % reduction of seizure frequency during the study and seizure responder rate (i. e. percentage of patients with ≥ 50% reduction of seizure frequency) depends on the critical assumption that seizure documentation accuracy remains stable during the study and is unaffected by the study medication. Currently several physiological approaches to feasible automated seizure registration are under assessment. In a recent survey, patients showed their general interest in such novel technologies if the device can be applied as inconspiculously and easily as modern wristband fitness trackers.