Fortschr Neurol Psychiatr 2014; 82(12): 721-728
DOI: 10.1055/s-0034-1385689
Mitteilungen
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Mitteilungen der Viktor von Weizsäcker Gesellschaft

Nr. 32 (2014)
Subject Editor: Heinz Schott, Bonn
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Publication History

Publication Date:
09 December 2014 (online)

20 Jahre Viktor von Weizsäcker Gesellschaft

In diesem Monat vor 20 Jahren, am 11. Dezember 1994, erfolgte anlässlich eines gemeinsam von der Abteilung Psychosomatik und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover und den „Karl Jaspers Vorlesungen zu Fragen der Zeit“ (Oldenburg) veranstalteten Colloquiums „Ärztliches Ethos und medizinische Ethik bei Viktor von Weizsäcker“ die Gründung der Viktor von Weizsäcker Gesellschaft.[1] Der Neurologe und Psychosomatiker Friedhelm Lamprecht, seinerzeit Leiter jener gastgebenden Abteilung der Medizinischen Hochschule Hannover, stellte bereits aus Anlass des 100. Geburtstags Viktor von Weizsäckers, ausgehend von dessen Unterscheidung zwischen einer naturwissenschaftlichen und einer anthropologischen Psychosomatik, die selbstkritische Frage, „ob eine zu starke Verpflichtung gegenüber einem einengenden Wissenschaftsbegriff in der psychosomatischen Medizin als Konzession im Anerkennungskampf unserer Fachdisziplin mit dazu beigetragen hat, das in seinem (Weizsäckers) Werk liegende Reformpotenzial nicht zu nutzen.“[2] Damit kommt der noch kaum ausreichend gewürdigte wissenschaftstheoretische und methodologische Anspruch des Weizsäckerschen Denkens in den Blick. Er zeigte sich zwar auch an der Gegenüberstellung von ärztlichem Ethos und medizinischer Ethik, wie sie während des genannten Colloquiums verhandelt wurde, mehr noch aber kennzeichnete er das Engagement der „Karl Jaspers Vorlesungen zu Fragen der Zeit“. Als Initiator und langjähriger Leiter dieses internationalen Forums gab Rudolf Prinz zur Lippe im ersten Band der Schriftenreihe „Beiträge zur Medizinischen Anthropologie“ einen kleinen Rückblick auf die Vorgeschichte dieser Gründung.[3] In Fortsetzung des gemeinsam mit Therese zu Oettingen-Spielberg und Carl Friedrich von Weizsäcker organisierten Symposiums zum 100. Geburtstag von Alfred Prinz Auersperg im September 1989 kam es dann im Rahmen der „Karl Jaspers Vorlesungen zu Fragen der Zeit“ zu einer bemerkenswerten Begegnung.[4]

Der chilenische Neurobiologe Humberto Maturana, dessen sinnesphysiologische und erkenntniskritische Überlegungen seinerzeit intensiv diskutiert wurden, war als Gast dieser Vorlesungsreihe gern bereit, sich auf Anregung des Prinzen zur Lippe mit der Gestaltkreislehre Viktor von Weizsäckers zu beschäftigen.[5] Das ehemalige Kloster Hude bei Oldenburg bot dafür einen vorzüglich geeigneten Ort. So trafen sich im Dezember 1991 einige der Mitarbeiter am Editionsvorhaben der „Gesammelten Schriften Viktor von Weizsäckers“, wie der Neurologe Dieter Janz und der Wissenschaftspolitiker und Philosoph Walter Schindler nebst weiteren Kennern und Interessenten des Weizsäckerschen Werks, wie dem Sozialpathologen Wolfgang Jacob, der Soziologin Annelie Keil oder dem Physiker und Philosophen Wolfgang Neuser, um gemeinsam mit Humberto Maturana und Rudolf Prinz zur Lippe nach dem zu fragen, was denn nun eigentlich die Aktualität des Weizsäckerschen Denkens ausmache.[6] Da mochte es zunächst wenig überraschen, dass zu solchen Fragestellungen nicht die Situation der klinischen Medizin den Anlass gab, sondern der damals neu entfachte erkenntnistheoretische Diskurs in der Biologie. Dennoch aber ging es dabei, wenn auch öffentlich noch wenig präsent, um die Grundlagen der Medizin, genauer: um das kulturelle und epistemologische Selbstverständnis der „modernen Medizin“. Unter Mitwirkung renommierter Vertreter medizinischer Fachrichtungen von der Physiologie über Immunologie, Genetik und Psychosomatik bis hin zur Psychiatrie und Psychotherapie fand kurz darauf im Juli 1992 ein Forschungskolloquium zu „Herkunft, Krise und Wandlung der modernen Medizin“ an der Berliner Charité statt.[7] Die Teilnahme sowohl der Philosophen Reiner Wiehl (Heidelberg), Günther Pöltner (Wien) und Jörg Splett (Frankfurt/M.) als auch der Mediziner Hans Schaefer (Heidelberg), Thure von Uexküll (Freiburg/Br.), Wolfgang Jacob (München) und Friedrich Vogel (Heidelberg) führte dazu, dass erstmals wieder seit dem Heidelberger Symposium zum 100. Geburtstag die anthropologische Medizin Viktor von Weizsäckers in der Wissenschaftsszene öffentlich zur Verhandlung kam.[8]

Schließlich kamen viele der an den genannten Veranstaltungen beteiligten Kollegen, wiederum eingeladen durch die „Karl Jaspers Vorlesungen zu Fragen der Zeit“, im Oktober 1993 zu einer Arbeitstagung im Hause Janz in Berlin zusammen.[9] In einer streng interdisziplinär angelegten Form ging es um detaillierte Fragestellungen zum ideengeschichtlichen Kontext und epistemologischen Profil ausgewählter Denkformen und Begriffe des Weizsäckerschen Werks.[10] Im Rückblick auf die intensive Diskussion der einzelnen Beiträge gewinnt man den Eindruck eines Versuchs der Vergewisserung zur Wirkmächtigkeit der von Viktor von Weizsäcker hinterlassenen Schriften und Anregungen. Wobei sich immer wieder die Frage nach Methode und Heuristik der nicht selten irritierenden Thesen Weizsäckers stellte. Um so dringlicher wurde nach Möglichkeiten der „Übersetzung“ in die Wirklichkeit der ärztlichen Praxis gesucht.[11]

Begann schon 20 Jahre zuvor mit einer ähnlich konzentrierten Arbeitstagung an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FESt) in Heidelberg die Bemühung um eine Edition des Weizsäckerschen Werks, wie sie dann zu dem bis ins Jahr 2005 reichenden Unternehmen der „Gesammelten Schriften“ im Suhrkamp Verlag führte,[12] so stellte sich nun die Frage nach Sinn und Nutzen der Gründung einer Viktor von Weizsäcker Gesellschaft. Dass es dann tatsächlich nach reichlich einem Jahr im Dezember 1994 dazu kam, hatte indes noch eine andere Bewandtnis. Es geht um eine recht überraschende Zäsur in der Wirkungsgeschichte und Traditionsbildung des Weizsäckerschen Denkens, die auf eigentümliche Weise für dieses Denken selbst steht: nämlich den Tod dreier sehr eigenwilliger und mit ihrer prominenten Wirkung die jeweilige fachmedizinische Herkunft weit überschreitender Gelehrter.

Im Fall des Heidelberger Sozialpathologen Wolfgang Jacob, der im April 1994 verstarb, ging es nicht nur um den Abschied von einem der späten Schüler Weizsäckers, der dessen ganze Heidelberger Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg als freier Mitarbeiter aus großer Nähe verfolgen konnte, sondern weit mehr um einen maßgeblichen Mitgestalter aller hier genannten Veranstaltungen und Zusammenkünfte auf dem Weg zur Gründung der Gesellschaft.[13] Man darf es als sein Vermächtnis betrachten, dass der von ihm gegründete Verein der „Brannenburger Seminare“ bei seiner Auflösung den Beschluss fasste, das verbliebene Vermögen eben jener neuen Unternehmung zu überlassen, die sich gerade anschickte, auch das geistige Erbe Wolfgang Jacobs anzutreten.[14]

Im Juli desselben Jahres verstarb mit Dieter Wyss ein weiterer später Schüler Viktor von Weizsäckers. Als dessen Assistent von 1949 bis 1952 war er eng mit der Gründung der ersten psychosomatischen Klinik in Deutschland verbunden, an der er sich bis 1955 in Innerer Medizin und Psychotherapie ausbilden ließ, um dann eine psychiatrische Ausbildung bei Jürg Zutt in Frankfurt/M. anzuschließen. 1969 wurde er zum Nachfolger Victor Emil von Gebsattels nach Würzburg berufen und leitete dort bis zu seiner Emeritierung das Institut für Psychotherapie und medizinische Psychologie. Beginnend mit seinem zum Klassiker gewordenen Lehrbuch zu den tiefenpsychologischen Schulen, das 1961 in erster Auflage zum Gedächtnis Viktor von Weizsäckers erschien, wurde Dieter Wyss über die Jahre zum philosophisch anspruchsvollsten Autor in der Tradition anthropologisch-medizinischen Denkens.[15] Wie wohl kein anderer setzte er den von Weizsäcker begonnenen Grundlagendiskurs fort und stellte die Medizin nicht nur in den Kontext der herkömmlichen Nachbardisziplinen, wie etwa Biologie, Philosophie und Theologie, sondern suchte in den späteren Jahren – darin am ehesten Paul Christian vergleichbar – den Austausch mit Informationstheorie, Kybernetik und Selbstorganisationsforschung.[16]

Als dann im September 1994 der Heidelberger Psychiater Hubertus Tellenbach verstarb, wurde auf bedrängende Weise deutlich, dass es zur weiteren Traditionsbildung anthropologischen Denkens in den Human-, Natur- und Geisteswissenschaften institutioneller Formen bedarf. Tellenbachs Problemgeschichte der Melancholie, ein in viele Sprachen übersetzter Klassiker der anthropologischen Psychiatrie, darf als ein „Musterbeispiel psychopathologischer Forschung auf geisteswissenschaftlicher Grundlage“ gelten und steht damit gemeinsam mit Wolfgang Jacobs „Geistesgeschichte der sozialen Medizin“ und den „tiefenpsychologischen Schulen“ von Dieter Wyss für einen Stil anthropologischen Denkens, wie er zunehmend auch von anderen Disziplinen her prominent vertreten wurde.[17] Freilich, dieses Bild der Wissenschaftslandschaft änderte sich zum Ausgang des 20. Jahrhunderts hin auf dramatische Weise. Um so wichtiger scheint es, im Rückblick auf die „Vorgeschichte einer Gründung“ sich eines geistigen Anspruchs zu vergewissern, der auch und gerade in der gegenwärtigen Wissenschaftskultur zum Maßstab taugt – zu einem Maßstab nämlich, an dem nicht nur die blinden Flecke methodischer Selbsttäuschungen deutlich werden, sondern die damit einhergehende Gefährdung der condition humaine.[18]

Insofern mag es eine bemerkenswerte Konstellation sein, dass uns der Rückblick auf die Gründung der Viktor von Weizsäcker Gesellschaft doppelten Anlass gibt, an den Arzt und Philosophen Hubertus Tellenbach zu erinnern. Einmal seines 20 Jahre zurückliegenden Todes wegen, der gleichsam zum letzten Anstoß für eben jene Gründung wurde, mehr noch aber seines 100. Geburtstags wegen, der – soweit man sehen kann – in der deutschen Psychiatrie der Gegenwart keine Aufmerksamkeit findet.[19] Für Tellenbach waren, wie auch seinerzeit für Viktor von Weizsäcker, die großen alten Fakultäten der Theologie, der Philosophie, der Jurisprudenz und der Medizin in ihrer gemeinsamen Herkunft aus den vier menschlichen Urständen des Unglaubens, der Unwissenheit, des Unrechts und der Krankheit, gleichermaßen im Dienst um die Not des Menschen verbunden.[20] Noch am deutlichsten wird dies bei Tellenbach wie bei Weizsäcker – und übrigens auch, wenngleich etwas verborgen, bei Wolfgang Jacob und Dieter Wyss – an der Einbeziehung und Wertschätzung der Literatur. Es ist die „anthropologische Funktion des Poetischen und das von ihr bewahrte Humanum“, wodurch auch und gerade in der vermeintlich aufgeklärten Spätmoderne jene menschlichen Urstände in ihr Recht gesetzt werden.[21] In seiner Besprechung der dritten Auflage von Tellenbachs Melancholie-Buch sieht der Heidelberger Medizinhistoriker und Paracelsus-Forscher Heinrich Schipperges in der vom Alten Testament herkommenden literarischen Tradition den geistesgeschichtlichen Hintergrund für eine Psychosomatik, die sich diesseits der abendländischen Trennung von Soma und Psyche an der „Struktur eines Humanum sui generis“ orientiert.[22] Tellenbachs „Endon“ wird so zum Paradigma für jene Wissenschaft, an der Viktor von Weizsäcker gelegen war: „eine Wissenschaft, die es eben noch gar nicht gibt, eine Wissenschaft, die nicht den Zusammenhang von Leib und Seele untersucht, sondern die schon jenseits dieses Dualismus oder, wenn man will, noch diesseits der Spaltung steht.“[23]