Physikalische Medizin, Rehabilitationsmedizin, Kurortmedizin 2013; 23(05): 263-264
DOI: 10.1055/s-0033-1355361
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Patientenperspektive und Patientenbeteiligung in der Rehabilitation

13. Rehabilitationswissenschaftliches Symposium, Leipzig 2012Perspective and Participation of the Patient in Rehabilitation13th Symposium for Research in Rehabilitation, Leipzig 2012
G. Grande
1   Fakultät Angewandte Sozialwissenschaften, Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig
,
S. G. Riedel-Heller
2   Medizinische Fakultät, Institut für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health, Universität Leipzig
,
U. C. Smolenski
3   Institut für Physiotherapie, Universitätsklinikum Jena
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Publication Date:
14 October 2013 (online)

Die Versorgung chronisch kranker Menschen stellt das Gesundheitssystem vor besondere He­rausforderungen. Den Patienten kommt als Koproduzenten ihrer Gesundheit eine besondere Verantwortung für eine langfristig erfolgreiche Behandlung und Rehabilitation zu. Sie entscheiden über die Inanspruchnahme von Leistungen, darüber ob ärztliche und therapeutische Empfehlungen umgesetzt werden und sie sind eigenverantwortlich für eine gesundheitsförderliche Modifikation der Lebensweise unter Alltagsbedingungen. Um diese Verantwortung wahrzunehmen, brauchen Patienten Information, Aufklärung, Schulung und Beratung und aktive Beteiligung, und sie brauchen eine medizinische und rehabilitative Versorgung, die sich an den Bedürfnissen der Betroffenen und ihrer Angehörigen orientiert. Dabei geht es eben nicht nur um einen medizinisch definierten Bedarf, sondern auch um Bedürfnisse, die sich aus Bildung, Geschlecht, Alter, kulturellem Hintergrund oder Lebenslage ergeben. In den letzten Jahren hat es in Deutschland vielfältige Bemühungen gegeben, die Patientenperspektive und -beteiligung im Gesundheitswesen zu stärken, Forschungsverbünde wie „Der Patient als Partner im medizinischen Entscheidungsprozess“ (BMG, 2001–2007) und „Chronische Krankheit und Patientenorientierung“ (BMBF, DRV, GKV, 2008–2014) haben dazu beigetragen, innovative Ansätze in der Rehabilitation und Gesundheitsversorgung zu implementieren und zu evaluieren. Wie die Praxis zeigt, besteht weiterhin ein enormer Entwicklungsbedarf für mehr Patientenorientierung im deutschen Gesundheitssystem.

Vor diesem Hintergrund wurde am 9. November 2012 in Leipzig das 13. Rehabilitationswissenschaftliche Symposium der Gesellschaft zur Förderung der Rehabilitation Berlin-Brandenburg-Sachsen sowie Sachsen-Anhalt und Thüringen unter dem Themenschwerpunkt „Patientenper­spektive und Patientenbeteiligung“ veranstaltet. Einige der Beiträge konnten für dieses Schwerpunktheft zusammengetragen werden. In diesen Beiträgen spiegelt sich die Vielfalt der Dimensionen von Patientenbeteiligung wider, es geht um die Optimierung der Rehabilitationsprogramme selbst und der Nachsorge, es geht um verschiedene chronische Erkrankungen und Behinderungen, es geht immer um die Perspektive der Betroffenen, die meist Gegenstand der Forschung sind und in dem Beitrag von Renner auch selbst zu Wort kommen.

Schleicher und Kolleginnen haben in einer randomisierten Studie untersucht, ob eine gemeinsame Zielvereinbarung von Arzt und Patient am Ende der stationären kardiologischen Rehabilitation die Veränderung der Lebensweise zuhause unterstützt und konnten unter anderem zeigen, dass nach einer gemeinsamen Zielvereinbarung die Teilnahmeraten an ambulanten Herzgruppen höher waren als in der Kontrollgruppe.

Romppel und KollegInnen beschäftigen sich in ihrem Beitrag mit der Frage, wie aus Patientensicht eine erfolgreiche nachhaltige Lebensstilmodifikation bei koronarer Herzerkrankung im Hinblick auf Settings, Angebotsstrukturen, Inhalte und Methoden gestaltet sein sollte. Die dabei von Patienten geäußerten Vorstellungen sind oft an der bekannten Standardversorgung orientiert, aber weisen doch auf wichtige Entwicklungspotentiale hin, wie die fehlenden Möglichkeiten zum Austausch mit anderen Betroffenen.

Ein Modellprojekt zur stärkeren Nutzung der Expertise von Betroffenen für andere Patienten stellen Cynthia Richter und KollegInnen vor. In einem kostenfreien Internetportal werden Video- und Audiobeiträge von Patientinnen und Patienten mit koronarer Herzerkrankung oder chronischen Rückenbeschwerden systematisch zusammengestellt. Im Sinne des Modelllernens sollen die erfolgreichen Peers mit ihren Berichten die Lebensstilmodifikation anderer Betroffener unter Alltagsbedingungen unterstützen.

Rennert, Mau und Lamprecht haben die Rolle des sozialen Netzwerkes und insbesondere der wichtigsten Bezugsperson für die Verbesserung der sportlichen Aktivität von Patienten mit muskuloskelettalen Erkrankungen nach der Rehabilitation untersucht. Sie können zeigen, dass neben der wahrgenommenen Selbstverantwortung vor allem die Größe des Netzwerkes und die konkreten sportbezogenen Unterstützungsangebote der Bezugsperson die Wahrscheinlichkeit für mehr sportliche Aktivität im Alltag erhöhen. Zur Umsetzung von mehr Patientenorientierung schlagen sie deshalb einerseits mehr Gruppenangebote in der Nachsorge vor und andererseits eine stärkere Integration der Angehörigen in die Rehabilitationsprogramme.

In dem Beitrag von Weber und Weber steht eine Analyse der Teilhabemöglichkeiten von gehörlosen Menschen im Arbeitsleben im Mittelpunkt. Von den über 1 000 Befragten schätzt weniger als ein Drittel ihren Arbeitsplatz als hörgeschädigten-gerecht ein. Die AutorInnen schließen, dass trotz verbesserter gesetzlicher Rahmenbedingungen durch die Behindertenrechtskonvention bzw. das SGB IX die entsprechenden Maßnahmen im Arbeitsalltag bisher kaum umgesetzt werden und damit weiterhin erhebliche Einschränkungen der Teilhabe von gehörlosen Menschen bestehen.

Welche Möglichkeiten aus Sicht der Selbsthilfe für die Betroffenen bestehen, Einfluss auf die Gestaltung der Gesundheitsversorgung zu nehmen, fasst Renner in seinem Beitrag kritisch und systematisch zusammen. Die Aktivitäten der Gesundheitsselbsthilfe umfassen in Deutschland ein sehr breites Spektrum Informationsvermittlung bis zur Interessenvertretung z. B. in Politik und Gesundheitsforschung.

Renner sieht die Aufgabe der Gesundheitsselbsthilfe deshalb auch immer stärker darin, eine Brücke zwischen Betroffenen, Fachleuten und Politik zu bauen und Interessen zu vermitteln. Dass das gelingen kann, wird an verschiedenen Beispielen belegt.

Wir wünschen uns, dass diese Schwerpunktheft dazu beiträgt, die Rehabilitation so weiterzuentwickeln, das die Perspektive der Patienten in der Gestaltung der Versorgung noch stärker berücksichtigt wird, zum Vorteil der Patienten und zum Vorteil einer qualitativ hochwertigen und nachhaltig wirksamen ­Rehabilitation.

Prof. Dr. p. h. G. Grande
Prof. Dr. med S. G. Riedel-Heller
Prof. Dr. med U. C. Smolenski