PPH 2013; 19(03): 167
DOI: 10.1055/s-0033-1347969
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Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Über Schüchternheit – Tiefenpsychologische und anthropologische Aspekte

Contributor(s):
Christoph Müller
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Publication Date:
23 May 2013 (online)

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(Verlag Vandenhoeck & Ruprecht)

Wie war das noch? Die Psychiatrische Pflege soll sich an den Phänomenen orientieren und den Dialog zu den Professionen suchen, die auch in der psychiatrischen Versorgung unterwegs sind… Die Studie „Über Schüchternheit“ gibt Anlass dazu, sich gemeinsam Gedanken zu machen und scheinbar alltäglichen Phänomen Seite an Seite zu begegnen. Dazu bedarf es natürlich der Klärung gemeinsamer Annahmen und gemeinschaftlicher Positionen. Das Buch „Über Schüchternheit“ bietet die Möglichkeit, an einem konkreten Beispiel sich selber und die interdisziplinäre Zusammenarbeit zu erproben.

Als psychologische Dissertation ist das Buch „Über Schüchternheit“ angenommen worden. Dies hindert die Autorin jedoch nicht, über den Tellerrand hinauszuschauen. Sie schreibt selber: „Das Thema Schüchternheit wirft eine Fülle von Fragen auf, biologische und medizinische, sozialpsychologische und politische, geschlechtsspezifische und kulturelle, psychologische und ethische. Der Schwerpunkt dieser Darstellung wurde auf die psychologische, vornehmlich tiefenpsychologische und auf die anthropologisch-philosophische Perspektive gelegt.“

Was die Untersuchung „Über Schüchternheit“ sympathisch macht, ist der Blick nach vorne, den Margarete Eisner wagt. Sie sieht den schüchternen Menschen als jemanden, der leidet und sich selbst als defizitär erlebt. Doch immer wieder leuchtet in den Überlegungen Eisners auf, dass sie Schüchternheit in einem Durchgangsstadium menschlicher Entwicklung sieht. Mit einem Ziel in Sicht formuliert Eisner: „Die anthropologische Sicht auf das Phänomen Schüchternheit ergab, dass der Mensch ein Verhältnis zu sich selbst hat. Daraus erwachsen ihm Möglichkeit und Verantwortung für die Gestaltung seines Lebens.“

An einer anderen Stelle schreibt Eisner von der Kompensation der Schüchternheit. In diesem Zusammenhang schreibt sie von Respekt vor der eigenen wie vor der fremden Persönlichkeit sowie von gemeinsamem Lernen und stetem Weiterwachsen, „nicht um Dressur und Einpassung in Bestehendes“. Dies wäre sicherlich auch im Sinne der psychotherapeutischen Vordenker, mit denen Eisner sich in der Grundlagenarbeit „Über Schüchternheit“ auseinandersetzt. Sie stellt die Schüchternheit in der Psychoanalyse Sigmund Freuds und der Individualpsychologie Alfred Adlers, in der Neopsychoanalyse Harald Schultz-Henckes und im Personalismuskonzept Josef Rattners vor. Sie schaut auf persönliche Schüchternheitserlebnisse auskunftsfreudiger Zeitgenossen sowie literarische Dokumente von Schriftstellern und Dichtern.

Wenn Eisner über die anthropologisch-philosophischen Aspekte zur Schüchternheit nachdenkt, referiert sie über Charles Darwin, Helmuth Plessner und Erwin Straus. Sie schreibt über die Nähe zum Scham-Begriff, der philosophisch und psychotherapeutisch auf immer neue Weise diskutiert wird. Sie ordnet ein, was Schüchternheit historisch und terminologisch bedeutet. Eine Schlussfolgerung lautet konsequent: „Die häufig großen Lebensunsicherheiten und Selbstzweifel eines schüchternen Menschen könnten daran anschließend geradezu als Chance zum immer neuen Nachdenken über sich als Mensch und als Individuum und über die eigene Stellung in der Welt angesehen werden.“

Was machen wir eigentlich sonst in der bezugspflegerischen Arbeit? Möglicherweise nicht am Phänomen denken, sprechen und handeln…

Christoph Müller