Der Klinikarzt 2013; 42(3): 107
DOI: 10.1055/s-0033-1345025
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Belagerungszustand – Ein Plädoyer für stärker reglementierte Besuchszeiten im Krankenhaus

Günther J Wiedemann
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Publication Date:
15 April 2013 (online)

Das Gute holt der Teufel zuerst.

(Deutsches Sprichwort)

Das Jahr 1963, eine konfessionelle Kinderklinik in Süddeutschland: Besuchszeiten sind dienstags und donnerstags von 15 bis 17 Uhr. Den Eltern ist der Zutritt zum Krankensaal mit den 10 kleinen Patienten untersagt. Sie drängen sich vor einer Glasscheibe im Gang und winken ihren Kindern zu. Kinder, deren Bett im toten Winkel liegt, können nicht einmal Blickkontakt zu ihren Besuchern herstellen. Die geistlichen Schwestern nehmen Geschenke und Briefe der Eltern entgegen und verteilen sie an die Patienten.

50 Jahre später, das Jahr 2013: Bei der morgendlichen Visite gelingt es nur mit Mühe, eine Großfamilie zum Verlassen des Krankenzimmers zu bewegen. Auf dem Gang vor dem Zimmer fordern Angehörige Auskunft über Diagnose und Therapie. Um 21 Uhr muss ein Patient, der mit seinen Gästen in der Besucherecke des Korridors eine Flasche Sekt leert, zur Ruhe ermahnt werden. Wer als Pflegender oder Arzt die Einhaltung von Regeln und Rücksichtnahme auf Mitpatienten und Arbeitsabläufe einfordert, riskiert, als Faschist beschimpft zu werden.

Zwei Extreme, gewiss. Und doch ist die Beschreibung der Verhältnisse im Jahr 2013 exemplarisch für eine falsch verstandene „Kundenorientierung“ in den Krankenhäusern. Im Internetforum http://www.gutefrage.net stellte vor einiger Zeit die Nutzerin „Agnes10“ die Frage: „Warum gibt es in den meisten Krankenhäusern keine Besuchszeiten mehr?“. Die anschließende Diskussion der Netzgemeinde war kontrovers. Unter dem Pseudonym „Knowledge“ hieß es: „Krankenhäuser sind schließlich Dienstleistungsunternehmen und müssen sich nach den Wünschen ihrer Kunden (Besucher und Patienten) richten”. Doch die Mehrheit der Diskussionsteilnehmer betonte, wie störend unbegrenzter Besuch für schwer kranke Patienten, aber auch für Mitpatienten sei, gipfelnd im Statement eines „Demosthenes“: „Ich wünsche dir nicht, einmal im selben Zimmer wie das Mitglied einer Migranten-Großfamilie zu liegen“.

Fordernde, rücksichtslose, allgegenwärtige Besucher sind allerdings beileibe keine Domäne von Immigrantenfamilien, wenngleich kulturelle Unterschiede in der Auffassung, wie viel Präsenz der Angehörigen in der Klinik angemessen sei, durchaus für zusätzlichen Konfliktstoff mit Personal und Mitpatienten sorgen.

Vielmehr sehen Ärzte und Pflegepersonal sich generell zunehmend mit Angehörigen konfrontiert, die von morgens bis abends Auskunft begehren, die Abläufe behindern und misstrauisch jedes Detail hinterfragen. Die meisten Kliniken erlauben heute Besuch von 8 Uhr morgens bis 8 Uhr abends, einige wenige auch unbegrenzt. Nur sehr wenige Kliniken wagen es, Besuchszeiten stark zu reglementieren, beispielsweise von 10–12 und 15–18 Uhr. Der Wettbewerbsdruck unter den Kliniken ist zu groß, um solche Beschränkungen zu vertreten. Schließlich beurteilen medizinische Laien die Qualität von Krankenhäusern eher nach der Güte des Essens und den Serviceleistungen, als nach der Qualität der medizinischen Versorgung. Dass letztere ernsthaft gefährdet ist, wenn die stationären Abläufe ständig durch das Besucherheer beeinträchtigt werden, ist vielen dabei sicher nicht klar.

Wir Ärzte sollten den Mut haben, diese Dinge bei den Klinikverwaltungen zu benennen. Unser Anliegen kann es nicht in erster Linie sein, „König Kunde“ zufriedenzustellen. Stationäre Patienten sind heute, in Zeiten von DRGs und kurzen Liegedauern, in der Regel schwer krank. Wir wollen Kranke heilen und kein Hotel betreiben.