Z Sex Forsch 2010; 23(2): 174-183
DOI: 10.1055/s-0030-1247438
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Publication Date:
21 June 2010 (online)

Rudolf E. Lang: Geschichten von Icks und Ypsilon. Kleine Physiologie der Lust und Liebe. München: C. H. Beck 2008. 188 Seiten, mit Abbildungen, EUR 9,95[1]

Der Autor beginnt sein Buch mit Aristophanes’ romantischer Erzählung über die Entstehung des Menschen, und er beendet es mit einer biologisch-technisierten Reportage über das Rennen der Samenzellen im Eileiter einer Frau, welche sich unter abenteuerlichen Bedingungen zur Eizelle vorkämpfen. Zwischen diesen beiden unterschiedlichen Darstellungen unternimmt er den Versuch, die Bedingungen für das Menschsein und -werden auf spielerisch-ironische Weise anhand neuer medizinischer Erkenntnisse aufzuzeigen und mit philosophischen, religiösen, künstlerischen und gesellschaftlichen Beispielen in Verbindung zu bringen.

Die Reise durch die biologische Menschwerdung beginnt mit der Überlegung, wieso wir Menschen überhaupt in zwei Geschlechter geteilt wurden und wie es dazu kommen konnte, dass aus dem Ursprungs-X- eine „zerfledderte Kopie“ in Form des Y-Chromosoms wurde. Der Leser fühlt sich anfänglich ein wenig ins Studium eines Schulbiologiebuches zurückversetzt, wobei die ironisch-abwertenden Äußerungen in Bezug auf die Männlichkeit und die Beantwortung von Fragen wie „Ist Sex erblich?“ die Darstellung reproduktiven Grundlagenwissens auflockern und in die Thematik des Buches einführen.

Die nächsten Kapitel „Düsentriebwerk“ und „Triebesboten“ informieren über die hormonellen Produkte der Hoden und Ovarien und deren Einfluss auf die Samen- und Eizelle, wie auch das Sexualverhalten, wobei der assoziativ-spielerische Erzählstil unter beständigem Hinweis auf die Unterschiede von Mann und Frau beibehalten wird. So erfahren wir warum Superman die gusseiserne Potenz einer Feldhaubitze besitzt und weshalb Kastraten ein zwar hodenloses, dafür aber deutlich längeres Leben führen und weshalb selbst im stärksten Mann „ein bisschen Weib steckt“. Die hormonelle Situation der Frau wird relativ kurz abgehandelt, um dann in doch recht oberflächlicher Weise anhand Jeffrey Eugenides Roman „Middlesex“ auf diejenigen Menschen zu sprechen zu kommen, deren Geschlechtszugehörigkeit nicht mit einem simplen Verweis auf die äußeren Geschlechtsorgane beantwortet werden kann. Das Kapitel schließt mit der „Moral der Geschichte“, dass das geschlechtsspezifische Verhalten nicht das Produkt psychosozialer Faktoren sei, sondern einem biologischen Programm folge, was bei dieser Thematik als doch zu wenig erscheint.

Es geht weiter mit einer Einführung in die funktionelle Neuroanatomie und die Unterschiede im Mann-Frau-Gehirn und die daraus folgende unterschiedliche Wahrnehmung und Verarbeitung von Aufgaben und Erlebtem. Die wachsenden Hoden des in der Brunftzeit lautstark für sich werbenden Eulenpapageis Kakapo leiten zu den Verführungsstrategien über, derer sich nicht nur paarungsbereite Menschen, sondern auch die Marketingunternehmen unter dem Motto „think limbic“ bedienen. Fragen nach der idealen Schönheit, den göttlichen Proportionen und dem sexuellen Dimorphismus werden unter Beschreibung teilweise skurril anmutender Studien, wie auch mit Beispielen aus der Kunst illustriert. Die Auseinandersetzung mit vielfältigen Bereichen des menschlichen Lebens weckt beim Leser das Interesse, sich auch über die Lektüre dieser amüsant zu lesenden Anrisse hinaus mit den aufgeworfenen Fragen zu beschäftigen. Anhand weiterer Beispiele aus dem Tierreich wird diskutiert, inwiefern sich „parental investment oder genetic benefit“ auszahlen, und ob die Lösung des Dilemmas im Interesse des reproduktiven Erfolgs doch besser die „menage a trois“ sei. Lieber den anhänglichen und treusorgenden sanften oder den mit den „Verheerungen eines überbordenden sexuellen Dimorphismus“ ausgestatteten Partner wählen? Lässt sich die Frage in Anbetracht des veränderten sozialen Rollengefüges heute nicht mehr so einfach beantworten – oder etwa doch, schlägt uns die Trägheit der Evolution ein anachronistisches Schnippchen?

Von den gesellschaftlichen Auswirkungen hormoneller Schwankungen geht es weiter zu den handfesteren Überlegungen der biologischen Ausstattung von Mann und Frau und der Feststellung der Mittelmäßigkeit dieser, im Vergleich mit den zahlreichen Beispielen, die wiederum aus dem Tierreich erbracht werden. Die Klitoris, welche Andreas Vesalius als krankhafte und nicht zum Körper einer Frau gehörende Erscheinung einschätzte, wird in ihrer Ähnlichkeit zum Penis des Mannes anatomisch diskutiert, um dann, vielleicht ein wenig banal formuliert, den größten Unterschied in der Geisteshaltung der beiden Geschlechter festzustellen: dass Frauen im Vergleich zur auftrumpfenden Männerwelt nie alles zeigen, was sie haben. Die physiologischen Grundlagen der Berührungsempfindung durch die Kraus’schen und Vater-Pacini-Körperchen werden anhand von Houellebecqs Elementarteilchen dargestellt, um dann zur Frage nach dem Sinn oder Unsinn des weiblichen Orgasmus überzuleiten und die verschiedenen Erklärungsmodelle – wenn auch wenig tiefgründig oder vollständig – aufzuzeigen.

Das Buch bietet einen amüsanten Überblick über die Anatomie und Physiologie der Sexualität des Menschen, dargestellt anhand unterschiedlichster Beispiele aus Gesellschaft, Tierreich, Kunst und Philosophie. Die aufgeworfenen Fragen werden oft nur oberflächlich berührt. Dies steht aber nicht dem populärwissenschaftlichen Anspruch des Buches entgegen, das spielerisch informativ sein soll, ohne zu lapidar zu werden, das zu weiterem Denken anregen und zugleich amüsant zu lesen sein soll. Die vielgestaltigen Perspektiven auf die menschliche Sexualität lassen dieses Buch zu einem leichten Lesevergnügen werden, bei dem sich der Leser mit den evolutionsbiologischen Fragen an Beispielen wie dem Kapaun oder dem Apfelschneckenmännchen auseinandersetzt.

Daniel Schöttle (Hamburg)

  • 1 Lang Rudolf E.. Geschichten von Icks und Ypsilon. Kleine Physiologie der Lust und Liebe. München: C. H. Beck 2008. 188 Seiten, mit Abbildungen, EUR 9,95
  • 2 Lücke Martin. Männlichkeit in Unordnung. Homosexualität und männliche Prostitution in Kaiserreich und Weimarer Republik. Frankfurt/Main, New York: Campus Verlag 2008 (Geschichte und Geschlechter Bd. 58). 360 Seiten, mit zehn Abbildungen, EUR 39,90
  • 3 Bancroft John. Human Sexuality and its Problems. Dritte Auflage. Edinburgh, New York: Churchill Livingstone, Elsevier 2009. IX, 546 Seiten, mit Abbildungen, Großformat, EUR 63,99
  • 4 Beckmann Andrea. The Social Construction of Sexuality and Perversion. Deconstructing Sadomasochism. Basingstoke, New York: Palgrave Macmillan 2009. 262 Seiten, GBP 55.--

1 Vgl. zur polizeilichen Verfolgung von Homosexualität, männlicher Prostitution und Erpressung wegen Homosexualität die teils überraschenden Ergebnisse von Jens Dobler: Zwischen Duldungspolitik und Verbrechensbekämpfung. Homosexuellenverfolgung durch die Berliner Polizei von 1848 bis 1933. Frankfurt / Main: Verlag für Polizeiwissenschaft 2008.

2 Nur die erste Auflage ist ins Deutsche übertragen worden, und zwar unter dem Titel „Grundlagen und Probleme menschlicher Sexualität“. Stuttgart: Enke 1985 (übersetzt von Bernhard Strauß).

3 Vgl. J. Bancroft (im Gespräch mit G. Schmidt). „Das Kinsey Institut ist wieder stark“. Z Sexualforsch 2004; 17: 359–370.

4 In dieser Zeitschrift zum Beispiel: J. Bancroft. Die Zweischneidigkeit der Medikalisierung männlicher Sexualität. Z Sexualforsch 1991; 4: 294–308; J. Bancroft. Die Medikalisierung sexueller Probleme von Frauen. Z Sexualforsch 2000; 13: 69–76

5 Z Sexualforsch 1990; 3: 277–279

6 Im sogenannten Spanner Case wurde im Jahr 1987 im Rahmen einer Polizeirazzia Videomaterial mit einvernehmlichen, aber heftigen sadomasochistischen Handlungen beschlagnahmt, auf dessen Grundlage 1990 sechzehn schwule Männer wegen Körperverletzung bzw. Beihilfe zur Körperverletzung zu bis zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt wurden. Der Europäische Menschengerichtshof bestätigte 1997 dieses Urteil, da er das Recht nationaler Bestimmungen von Körperverletzung zuerkannte.

7 „The conditions of domination immanent to capitalist, patriarchal, ageist and abelist [sic!] societies which foster un­consensual ‘sadomasochistic dynamics’ with­in social relationships have also confronted and affected several [sic!] of my interviewees“ (S. 140).

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