Z Sex Forsch 2010; 23(2): 170-173
DOI: 10.1055/s-0030-1247404
Bericht

© Georg Thieme Verlag Stuttgart ˙ New York

Sexualität im Kindes- und Jugendalter

Tagungsbericht über das 3. Kinderanalytische SymposiumSibylle Schlich-Dannenberg
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Publication Date:
21 June 2010 (online)

Wie „unschuldig“ ist das Kind? Rund 150 Teilnehmer des 3. Kinderanalytischen Symposiums diskutierten vom 4. bis 6. März 2010 an der Universität Tübingen das Thema „Sexualität im Kindes- und Jugendalter“.[1] In zahlreichen Vorträgen wurde dabei auf die Freudsche Theorie Bezug genommen und gefragt, inwieweit das Primärobjekt, die Mutter, den Säugling bereits mit dem Reichen der Brust stimuliert, ihn sinnlich-sexuell „verführt“ und sich von ihm verführen lässt. Sexualität, so macht bereits das Tagungsprogramm deutlich, ist in ihrem Kern ein Skandalon geblieben. Der polymorph perverse Trieb des Kindes bleibe, auch wenn er beim Erwachsenen unter „das Primat der Genitalität gebündelt“ sei, letztlich unverträglich mit Kultur und Gesellschaft.

Wie variabel und individuell sich Sexualität inszeniert und wie unterschiedlich sich die sexuelle Entwicklung darstellt, zeigte das bunte Kaleidoskop der in Vorträgen und Workshops vorgestellten Fallvignetten. In hochfrequenten Psychoanalysen mit entwicklungsgestörten, zum Teil traumatisierten Patienten wird die Lebendigkeit vor allem der infantilen Sexualität offenbar, mit deren komplexer und kreativer Triebkraft Entwicklungs­prozesse erstmals oder wieder angestoßen werden können. Wird der Raum für die Entfaltung infantiler Sexualität in der analytischen Situation geschaffen, so beginnen die kleinen Patienten, sprachlichen Kontakt aufzunehmen und an noch nicht erfahrene oder verlorene Beziehungsmuster anzuknüpfen. Im Folgenden werden die Vorträge der Tagung vorgestellt, neben denen auch zahlreiche Falldiskussionen und Workshops stattfanden.

Eingeleitet wird das Symposium mit einem öffentlichen Vortrag von Dieter Bürgin, über „Sexualität, Begehren und Liebe bei Kindern und Jugendlichen“. Der Säugling, so Bürgin, sei zunächst auf die Außenwelt gerichtet, die Antwort aus der Außenwelt aktiviere sein Triebsystem. Bürgin beschreibt die sexuelle Entwicklung des Säuglings damit unter Bezug auf Francoise Dolto und setzt dem Wunsch nach Beziehung, Beruhigung und Entspannung das Begehren als Triebfeder voraus. Erst wenn Bedürfnis und Begehren befriedigt werden, entstehe Liebe als Affekt. Bürgin verknüpft die triebhafte Suche des Säuglings nach Befriedigung also mit dem Wunsch nach Beziehung. Nicht die sofortige Befriedigung infantil triebhafter Sexualität fördere die Phantasie des Kindes, sondern die schmerzliche Erfahrung der Abwesenheit der Mutter und das Warten auf die Mutter. Bestimme aber Warten und Nichterfüllung der Bedürfnisse die Welt des Säuglings, so entstehe der Nährboden des primären Narzissmus. Besonders die Sexualität des Mädchens, so Bürgin, bilde sich über das Warten. Bürgin stellt seine Überlegungen anhand der Fallvignette einer 13-jährigen anorektischen Patientin dar, deren Hunger und Begehren durch Überfüttertwerden genommen worden seien. Dabei wird deutlich, wie sich Begehren in einem Frage- und Antwortspiel entwickelt und wie dabei auch Beziehung entsteht.

Durch ihre Publikationen zur infantilen Sexualität und zur sexuellen Brust bekannt, spricht anschließend Friedl Früh, über „Kindliche Sexualphantasien“ und deren Stellenwert in der psychoanalytischen Theoriebildung. Für Früh ist es das Unbewusste, das Verdrängte, das zur Phantasie wird. Dabei sei nicht von Bedeutung, ob eine Traumatisierung durch ein real erlebtes Ereignis vorliegt, oder ob Angeborenes, Körperliches die von infantiler Sexualität geprägte Phantasie hervorruft. Um das individuelle Entwicklungsgeschehen zu verdeutlichen, berichtet Früh u. a. über den fünfjährigen Sohn einer alleinerziehenden Mutter, der unter Phobien, Aggressionen und Ängsten litt. Im Spiel mit der Analytikerin erklärt der kleine Patient, dass Kriegführen Männersache sei und Frauen sich schönmachen. Früh setzt symbolisch das „Scheißen“ des Kindes dem Schießen gleich. Und sie versucht zu belegen, dass der Patient mit der Spiegelung aktueller Kriegsberichtserstattungen im therapeutischen Setting lediglich archaisch-kollektive Vorstellungen von Macht und Unterwerfung zeige, die ihren Ursprung in der infantilen Sexualität haben. In der lebhaften Diskussion weist Früh auf die Unmöglichkeit hin, in der psychoanalytischen Situation Ursprünge aufzuklären und warnt davor, Patienten mit vorgefertigten Deutungen zu bombardieren.

„Der kleine Hans heute“ lautet das Thema von Christa von Susani, die in ihrem klar strukturierten Vortrag die „infantile Sexualität aus dem Blickwinkel der heutigen kinderanalytischen Sicht“ betrachtet. Susani erinnert zunächst daran, dass die vom Vater des Patienten aufgezeichneten und von Freud zur Theorie der kindlichen Sexualphantasie zusammengeführten Äußerungen des kleinen Hans im Wien des beginnenden 20. Jahrhunderts skandalös waren: Freuds Äußerungen wurden als obszön diffamiert, die Öffentlichkeit reagierte schockiert. Freud ging damals davon aus, das Kind werde zur Sexualität verführt – erst später distanzierte er sich von der Ausschließlichkeit dieser sexuellen Traumatheorie. Susani schildert die Weiterentwicklung der klassischen Ödipustheorie durch Klein, Winnicott und Bion, die davon ausgehen, dass frühe Ängste massive Abwehr mobilisieren. Während Melanie Klein die Ursache dieser Ängste im Säugling selbst ausmacht, der zur paranoiden und depressiven Position findet, erkennen Winnicott und Bion die Entstehung der Ängste in der Begegnung zwischen Mutter und Kind. In ihrer Fallvignette berichtet die Analytikerin über die Behandlung eines von den Eltern unerwünschten Jungen mit tiefgreifenden Entwicklungsrückständen: Weder das symbolische Spiel noch die Sprache haben sich gebildet. Nach einer Phase des Aneinanderklebens kommt es zum Spiel, in dem die Bildung infantiler sexueller Phantasie den psychischen Raum des kleinen Patienten erweitert und bereichert. Der Patient spielt, ein Mädchen zu sein, die Analytikerin wird in seinem Spiel zum Mann. So kommt es zur Einführung eines Dritten und damit zur Triangulierung aus der fusionierten Beziehung zur Mutter.

Beeindruckend ist auch die Fallvorstellung im Vortrag „Furious with ­Love“ von Majlis Winberg Salomonsson. Im Mittelpunkt steht Anna, die im analytischen Puppenspiel ihre sexuellen Phantasien darstellt, ausagiert und dabei mit der Therapeutin in Beziehung tritt. Winberg Salomonsson zeigt anschaulich, wie Anna mit der Inszenierung von Kastration und Penisneid und masturbatorisch anmutenden Bewegungsabläufen mit einem kleinen Flugzeug das Begehren in der Sexualität entdeckt. Schließlich beschreibt Winberg Salomonssen eine Sitzung, in der das schlafende Kind der Analytikerin von der Mutter in den Arm gelegt wird, die Stunde als „Sleeping Beauty“ verträumt und der Mutter von der Analytikerin schließlich wieder in die Arme zurückgegeben wird. Den Zuhörern wird eindrucksvoll vermittelt, wie das Beunruhigende, Aufregende, Verstörende und Erregende der Stunden zuvor die Regression und Stärkung des Schlafes bewirkt, wonach psychosexuelle und identitätsstiftende Reifung erfolgt.

Es folgt der Vortrag „Infantile Sexuality – Infant Sexuality“ von Björn Salomonsson, der sich seit Jahren mit Säuglingsbeobachtung und Bindungstheorie beschäftigt. Salomonsson zeigt Videos von einer Mutter mit ihrem Säugling, um zu belegen, dass der durch das Triebgeschehen infantiler Sexualität bewegte Säugling die Mutter(brust) zu einer Reaktion verführt und sich seinerseits von der Mutter(brust) verführen lässt. In seinem Schlusswort kündigt Salomonsson die Wiedergeburt der infantilen Sexualität an, „nicht nur als Phänomen, das wir mit unseren erwachsenen Analysanden rekonstruieren, sondern auch als etwas, das in jeder Mutter-Säugling-Interaktion lebt und wirkt.“

Die Psychoanalytikerin Erika Kittler referiert über „Die Sexualität des Kindes und die infantile Sexualität der Psychoanalyse“. Anhand drastischer Bilder von Tomi Ungerer und Francis Bacon führt sie ins Thema der infantilen Sexualität ein. Dabei trifft Kittlers Blick den Analytiker ebenso wie das Kind und die Kunst: „Wir beobachten die Kinder mit dem Blick des von infantiler Sexualität geprägten Analytikers.“ Anhand einer Fallvignette führt Kittler spürbar und erlebbar vor, wie notwendig es in der Behandlung von kindlichen Patienten mit Entwicklungsstörungen und schweren frühkindlichen Neurosen ist, Sexualität zu beachten und ihr Raum zu geben: In der Analyse einer dreijährigen Patientin zeigt sich das Mädchen triebhaft hüpfend und fasziniert davon, im phantasierten Scenospiel das „Eklige ins Klo zu werfen“. Das Ins-Klo-Geworfene wird dabei vom Penis des Vaters zu eklig stinkenden Fäkalien. Während sich die anorektische, suizidale Mutter in eine Hülle der Erstarrung flüchtet, lässt die Analytikerin sich von der polymorph-perversen Dynamik erfassen und es gelingt ihr, in inneren Kontakt mit der kleinen, schwer gestörten Patientin kommen. Ihre Aufmerksamkeit gilt dabei auch der Mutter, die angesichts der kindlichen Erregung ihre eigene anorektische Erstarrung wahrnehmen kann.

Mit seinem Vortrag „Sexualität und Scham in der Kinder- und Jugendanalyse“ setzt der Veranstalter des Symposiums, Michael Günter, den Schlusspunkt und stellt die Sicht Freuds auf die infantile Sexualität vor. Laut Freud ist die Zärtlichkeit in der Pubertät das Überbleibsel der infantilen Sexualität. Günter stellt die positive Kraft des Triebes in den Mittelpunkt. Der Trieb sei Triebkraft jeder psychosozialen Entwicklung, das Fremde mache Angst und Lust – das führe zum Konflikt und zur Abwehr. Verleugnung der Sexualität münde ebenso wie eine Pseudosexualisierung in eine „Peter-Pan-Welt im Neverland“. Auf diese Weise habe Michael Jackson die Abwehr lebenslang zelebriert. Auch eine Sexualisierung diene der Abwehr; zwar erfolge hier narzisstische Zufuhr, Zärtlichkeit werde aber ausgeblendet.

Versuche ich, die differenzierten und interessanten Beiträge des Symposiums zur Sexualität im Kindes- und Jugendalter zusammenzufassen, so zeigt die Entwicklung der Psychoanalyse in Theorie und Praxis eine Abwendung von der reinen Bindungstheorie und von der Hervorhebung der Sprache. Back to the roots. Denn Sexualität ist Körper, ist Beziehung, ist polymorph-pervers und ist die Triebkraft für jegliche Weiterentwicklung.

1 Die Vorträge werden in Kürze in der Zeitschrift „Kinderanalyse“ publiziert.

Prof. S. Schlich-Dannenberg

Analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin

Bernhäuser Str. 8

70771 Leinfelden-Echterdingen

Email: schlich.dieter@googlemail.com

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