B&G Bewegungstherapie und Gesundheitssport 2010; 26(3): 126-130
DOI: 10.1055/s-0030-1247374
PRAXIS

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Übungsgestaltung und Belastungssteuerung beim therapeutischen Klettern – das Modell der Stabilisierungsvierecke und Belastungsdreiecke

R. Kittel1 , B. Jockel1 , M. Gruber1
  • 1Universität Potsdam, Professur für Trainings- und Bewegungswissenschaft, AB Theorie und Praxis der Sportarten
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Publication Date:
24 June 2010 (online)

Bei vielen Indikationen (insbesondere bei solchen des Bewegungsapparats) hat sich in den letzten Jahren die Sporttherapie als Behandlungsmaßnahme etabliert [8]. Dabei zielt die Sporttherapie bei Verletzungen und Beschwerden des Stütz- und Bewegungsapparats auf die Re-Adaptation der geschädigten Strukturen. Letztendlich muss die uneingeschränkte Funktion der verletzten und / oder geschädigten Strukturen das Therapieziel sein. Dafür werden unterschiedliche Hilfsmittel und Bewegungsformen eingesetzt.

In diesem Zusammenhang wird auch Klettern als Therapieform genutzt. Diese hat sich in der Praxis bewährt, und sie wird seit mehreren Jahren für die unterschiedlichsten Verletzungs- und Beschwerdebilder angewendet (zum Überblick [6]). Im Gegensatz zum geführten, Geräte gestützten Krafttraining ist Klettern immer eine Ganzkörperbewegung. Dabei werden Muskelschlingen aktiviert, die von den Zehen über die unteren Extremitäten, den Rumpf bis in die Fingerspitzen der oberen Extremitäten gehen ([Abb. 1]).

Abb. 1 Beispiel der Muskelschlinge für eine exemplarische Kletterbewegung: grau – Anteile der Streckerschlinge, schwarz – Anteile der Beugerschlinge. (Mit freundlicher Genehmigung aus [6].)

So wird nicht nur die gestörte Struktur trainiert, sondern es werden auch Trainingsreize für den ganzen Körper gesetzt. Vergleicht man den Körper mit einer Kette, dann wird nicht nur das zerstörte Kettenglied repariert, sondern alle Kettenglieder werden gestärkt. Im Ergebnis ist sowohl die verletzte bzw. geschädigte Struktur als auch der komplette Stütz- und Bewegungsapparat höher belastbar. Diese Ganzkörperbelastung basiert auf dem Prinzip der „diagonalen Belastung“ [4].

Um eine Kletterbewegung (einen Zug oder einen Tritt) zu ermöglichen, muss die zu bewegende Extremität entlastet werden. Dabei wird beim frontalen Klettern der Körperschwerpunkt (KSP) so verschoben, dass die Verbindung von Haupthaltehand zum am meisten belasteten Fuß ihn schneidet ([Abb. 2]). Dadurch wirken die Kräfte (Druckkraft des Fußes und Zugkraft der Hand) nicht nur entgegengesetzt, sondern sie greifen auch direkt am KSP an. ­Somit existiert kein Hebel, über den ein Drehmoment entstehen kann. Als Resultat wird die wenigste Kraft benötigt, um eine Extremität bei stabiler Körperposition zu entlasten.

Abb. 2 Prinzip der diagonalen Belastung beim Klettern: links Haupthaltehand, rechts Haupttrittbein.

In [Abbildung 2] sind die linke Hand und der rechte Fuß hauptbelastet. Der linke Fuß stabilisiert, und die rechte Hand kann weiter greifen. Diese diagonale Belastung ist fundamental beim Klettern und Grundlage der Ganzkörperbelastung – und weist ­Gemeinsamkeiten mit der Krabbel- oder Laufbewegung auf [9]. Viele Autoren sprechen vom Krabbeln in der Vertikalen, wenn sie vom Klettern reden. So findet ­immer eine Verbindung der linken mit der rechten Körperseite statt, die entsprechend auch die Hirnhemisphären verbindet.

Je jünger die Patienten (oder je größer ihre Klettervorerfahrung durch Baumklettern etc.) sind, desto leichter fällt ihnen diese natürliche diagonale Belastung. Bei Kindern ist zu beobachten, dass sie (wie aus [Abb. 2] ersichtlich) instinktiv diagonal klettern. Auf dieses (Kletter-)Potenzial wird bei Erwachsenen zurückgegriffen. Die Kunst des Klettertherapeuten besteht darin, Therapieboulder (definierte Kletterprobleme) so zu erarbeiten, dass sie trotz der Ganzkörperbelastung den Fokus auf die zu therapierende Struktur richten.

Literatur

  • 1 Bernstädt W, Kittel R. Ganzkörpertherapie „Klettern“ – Trainieren in Muskelschlingen. In: Lazik D, Hrsg. Therapeutisches Klettern. Stuttgart: Thieme; 2007: 51–53
  • 2 Bernstädt W, Kittel R. Ganzkörpertherapie „Klettern“ – Trainieren in Muskelschlingen. In: Lazik D, Hrsg. Therapeutisches Klettern. Stuttgart: Thieme; 2007: 3–22
  • 3 Fröhlich M, Schmidtbleicher D, Emrich E. Intensität und Wiederholungszahl als Steuerungsparameter im Krafttraining – State of art.  Zeitschrift für Physiotherapeuten. 2002;  54(5) 745-750
  • 4 Kittel R. Biomechanische Aspekte beim Sportklettern. In: Wick D, Hrsg. Biomechanik im Sport. Lehrbuch der biomechanischen Grundlagen sportlicher Bewegungen. 2., überarb. u. erw. Aufl. Balingen: Spitta; 2009; 247–254
  • 5 Köstermeyer G, Tusker F. Kinematische Analyse einer dynamischen Klettertechnik.  Leistungssport. 1997;  2 43-46
  • 6 Lazik D Hrsg. Therapeutisches Klettern. Stuttgart: Thieme; 2007
  • 7 Neumann U. Lizenz zum Klettern. 2. Aufl. Köln: Udini; 2003
  • 8 Schüle K, Huber G Hrsg. Grundlagen der Sporttherapie. Prävention, ambulante und stationäre Rehabilitation. 2., überarb. Aufl. München: Elsevier; 2004
  • 9 Winter R. Die motorische Entwicklung des Menschen von der Geburt bis ins hohe Alter. In: Meinel K, Schnabel G, Hrsg. Bewegungslehre – Sportmotorik. Abriss einer Theorie der sportlichen Motorik unter pädagogischem Aspekt. 9., stark überarb. Aufl. Berlin: Sportverlag; 1998: 237–349

Korrespondenzadresse

Dr. R. Kittel
Björn Jöckel
Prof. Dr. Markus Gruber

Universität Potsdam · Professur für Trainings- und Bewegungswissenschaft · AB Theorie und Praxis der Sportarten

Am Neuen Palais 10

D-14469 Potsdam

Phone: 03 31 / 9 77 10 91

Email: rene.kittel@uni-potsdam.de

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