Notfall & Hausarztmedizin 2009; 35(7): 351
DOI: 10.1055/s-0029-1237440
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Diabetologie 2009 und die Irrtümer der Wissenschaft – Was lernen wir daraus?

Cornelia Jaursch-Hancke
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Publication Date:
01 August 2009 (online)

Schon Linus Pauling wusste: „Wissenschaft ist Irrtum auf den letzten Stand gebracht.“ Das hat in der letzten Zeit auch die Diabetologie erfahren müssen: Die Ergebnisse von ACCORD, ADVANCE und VADT aus den letzten Monaten ermuntern zum Umdenken in der Praxis. Wie es aussieht, profitieren ältere Patienten mit makrovaskulären Komplikationen und einer jahrzehntelangen Diabetesdauer nicht mehr von einer normnahen Blutzuckereinstellung. Eine Polypharmazie, die unter anderem mit dem Risiko vermehrter Hypoglykämien assoziiert ist, scheint im Gegenteil eher ungünstig zu sein und die kardiovaskuläre Mortalität zu erhöhen.

Andererseits zahlt sich wohl eine initial gute Blutzuckerqualität auch noch nach vielen Jahren aus – selbst wenn sich die Stoffwechsellage inzwischen wieder verschlechtert hat, so die Verlaufsbeobachtung der „United Kingdom Prospektive Diabetes Study“, kurz UKPDS. Es scheint also ein metabolisches Gedächtnis für makrovaskuläre Komplikationen zu geben. Irgendwann im Laufe der Diabeteserkrankung wird dann aber offenbar ein „point of no return“ für makrovaskuläre Komplikationen erreicht.

Für die Praxis bedeutet diese Erkenntnis: Wir müssen den Typ-2-Diabetes möglichst frühzeitig erkennen und optimal behandeln. Vielleicht ist eine medikamentöse Therapie schon im Stadium der pathologischen Glukosetoleranz sinnvoll. Auf der anderen Seite müssen die Risiken der normnahen Glukoseeinstellung bei älteren, multimorbiden Patienten sorgfältig beachtet werden. Es ist ein Irrtum, dass es für alle Patienten mit Diabetes sinnvoll ist, HbA1c-Werte unter 6,5  % zu erreichen. Dies hat die Deutsche Diabetes-Gesellschaft (DDG) aufgrund der aktuellen Studienlage in einer Stellungnahme festgestellt. Ein HbA1c-Wert von 7–8  % kann im Einzelfall also durchaus adäquat sein.

Fast als schicksalhaft wird hingenommen, dass es mit dem Beginn einer Insulintherapie oder dem Einsatz oraler insulinotroper Medikamente zu einer Gewichtszunahme kommt. Dabei gibt es keinen „mysteriösen“ adiposogenen Effekt dieser Therapieformen. Im Vordergrund steht die Energiebilanz. Alle großen, aktuell publizierten Studien wurden aber ohne begleitende Lebensstilintervention, also ohne Ernährungsberatung und Bewegungstherapie durchgeführt.

Da ein Diabetes gleichbedeutend ist mit einem hohen kardiovaskulären Risiko, ist es sinnvoll, diese Betrachtungsweise auch in die Praxis umzusetzen. Dies bedeutet: Regelmäßige Checks auf Hinweise für eine koronare Herzerkrankung oder Herzinsuffizienz, ein Monitoring von Endorganschäden und eine adäquate Therapie bei manifester koronarer Herzerkrankung sind stets im Blick zu behalten. Die Leitlinien der Europäischen Gesellschaften für Kardiologie, Diabetologie und Hypertonie halten sinnvolle Scores bzw. Tabellen zur Evaluation des kardiovaskulären Risikos und zur adäquaten Therapie bereit.

Eine besondere Rolle bei Diabetikern spielen hämostaseologische Störungen. Fibrinogen, der Plasminogen-Aktivator-Inhibitor-I (PAI I) und Thrombozytenveränderungen sind sowohl mit einem erhöhten Risiko für die Koronargefäße assoziiert als auch direkt an der Pathogenese der Atherothrombose beteiligt. Die Gabe von Azetylsalizylsäure (ASS) bietet hier zwar einen therapeutischen Ansatz, löst aber nicht die komplexen hämostaseologischen Probleme, was besonders für die jüngeren Diabetiker gilt.

Das aktuelle Schwerpunktheft „Neues aus der Diabetes-Therapie“ soll Sie unterstützen, die neuen Studienergebnisse kritisch einzuordnen. Vor allen Dingen sollten Sie die Leitlinien als das ansehen, was sie sind: Empfehlungen und keine rigiden Handlungsanweisungen. Viel Spaß beim Lesen!

Dr. med. Cornelia Jaursch-Hancke

Wiesbaden

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