Krankenhaushygiene up2date 2024; 19(01): 3-6
DOI: 10.1055/a-2210-3134
Editorial

Hygiene contra Nachhaltigkeit? Hygiene pro Nachhaltigkeit!

Simone Scheithauer

„Real change enduring change happens one step at a time“ (Ruth Bader Ginsburg)

„Hygiene verschlechtert die Ökobilanz!“ Aussagen wie diese werden einem zunehmend aus vielen Kliniken und Praxen zugetragen. Was steckt dahinter? Nun, eine breite Beschäftigung mit der Klimakrise einerseits und – ja und was eigentlich…? Starten wir mit dem unstrittigen Ausgangspunkt: der Klimakrise.

Die globale Erwärmung und Verschmutzung ist eine der größten Bedrohungen für viele Faktoren, die für unsere Gesundheit wesentlich sind, wie sauberes Trinkwasser, nahrhafte Lebensmittel und Schutz vor Unwetterereignissen. Seit 1970 hat sich die mittlere globale Lufttemperatur um rund 1°C erhöht [1]. Grund dafür ist die Freisetzung von Kohlenstoffdioxid (CO2) und anderer human getriebener Treibhausgase [2]. Das deutsche Gesundheitswesen ist für 5,2% der gesamten klimaschädlichen Emissionen im Land verantwortlich. Wäre das weltweite Gesundheitswesen eine eigenständige Nation, würde diese den Rang fünf der weltweit stärksten Treibhausgasemitter belegen. Ein Drittel der Emissionen ist direkt auf die Einrichtungen zurückzuführen, zwei Drittel entstehen in den Lieferketten (no „green procurement“) [3]. Neben den sogenannten Treibhausgasen belastet der Krankenhaussektor in anderen Bereichen. So lag z.B. das jährliche Abfallaufkommen im Gesundheitssektor in 2019 mit ca. 1430 kg Abfall pro Krankenhausbett fast dreimal so hoch wie das einer Person eines Privathaushaltes [4]. Auch der Verbrauch von Wasser, nicht-wiederverwendbaren Verbrauchsgütern sowie der Eintrag von potenziell umweltschädlichen Chemikalien sind relevant mit z.B. einem Wasserverbrauch von 300– 600l/Tag und Krankenhausbett in Deutschland [5]. Es ist also mehr als evident, dass der Gesundheitssektor bezogen auf ökologische Nachhaltigkeit eine relevante Rolle spielt. Und jede Aktivität, die sich dieser Problematik annimmt, ist zu begrüßen und sollte – nach Prüfung – Unterstützung finden. Erste Initiativen für einen ökologisch nachhaltigeren Gesundheitssektor in Deutschland gibt es bereits. Beispielsweise setzt sich die deutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit e.V. (KLUG) für eine klimasensiblere und resilientere Gesundheitsversorgung ein.

Was heißt das jetzt bezogen auf medizinische Patient*innenversorgung, Hygiene und Infektionsprävention? Krankenhäuser stellen die ethisch hoch zu bewertende Behandlung schwer erkrankter Menschen sicher. Hygienerelevante Standardprozesse und Maßnahmen sind essenziell für eine erfolgreiche Patient*innenversorgung. Sie sind notwendig und erforderlich zur Prävention von Transmissionsereignissen und nosokomialen Infektionen. Jede medizinische Tätigkeit stellt auch eine ökologische Belastung dar und auch jede dieser medizinischen Maßnahme innewohnende Hygienemaßnahme geht mit einer Belastung des Ökosystems einher. Es ist aktuell unklar, wie groß diese ist. Auch dadurch bedingt wird dieser Faktor bisher zu selten in Entscheidungsprozesse eingebunden. Wird der Klima- und Umweltschutz stärker als bisher mitgedacht, können sich intrinsische Zielkonflikte zwischen optimalem Infektionsschutz von Patient*innen (und Beschäftigten) und Emissionsreduktion ergeben.

Ist Hygiene jetzt ein „Klimakiller“? Was genau ist Hygiene? – Hier lohnt der Blick auf die Entstehungsgeschichte. Dies bewahrt uns davor Hygiene auf den absolut wichtigen Teilbereich der Krankenhaushygiene zu reduzieren. Hygiene in der ganz traditionellen sehr weit gefassten Definition umfasst zweierlei: zum einen ganz praktisch die Gesamtheit aller Maßnahmen zur Erhaltung und Verbesserung der Gesundheit und des Wohlbefindens und zur Vermeidung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten und Epidemien, also die Gesundheitsfürsorge und zum zweiten propädeutisch die Lehre von der Gesunderhaltung des Einzelnen und der Allgemeinheit, also die Gesundheitslehre [6]. Natürlich ist das heutige Verständnis stärker auf die Prävention übertragbarer Erkrankungen ausgerichtet. Daraus folgt, dass Hygiene nicht nur aktuell, sondern traditionell betrachtet Aspekte des Klima- und Umweltschutzes berücksichtigt oder berücksichtigen sollte. Man könnte sogar postulieren, dass Hygiene aktiv einen Mehrwert für die Umwelt leistet, indem zukünftige Infektionen verhindert werden und dadurch ein zukünftiger Ressourceneinsatz gar nicht erst nötig wird. Dies kann modern als Planetary Health Gedanke betrachtet werden [7] [8]. Auch Krankenhaushygiene und Infektionsprävention vermeiden konkret nicht nur individuell Komplikationen, Schmerzen, Langzeitfolgen und Todesfälle, sondern leisten einen wesentlichen Beitrag zur ökologischen und ökonomischen Nachhaltigkeit im Gesundheitswesen durch Reduktion infektiologischer Komplikationen. Hygiene ist also Teil einer Lösungsstrategie.

Was heißt das jetzt konkret? Kann alles bleiben wie es ist? Der aktuelle Sachstandbericht des Robert Koch-Instituts (RKI) „Klimawandel und Gesundheit 2023“ stellt den immensen Einfluss des Klimawandels auf die menschliche Gesundheit insbesondere in Bezug auf übertragbare Erkrankungen dar. Werden die CO2 und anderen Treibhausgasemissionen in den kommenden Jahren nicht drastisch reduziert, wird eine globale Erwärmung von 2°C im Laufe des 21. Jahrhunderts wahrscheinlich überschritten. Die Herausforderung wächst also.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sieht großes Potenzial für Einsparungen durch Minderung von Ressourcenverbrauch und Emissionen im Bereich des Gesundheitssektors [9]. Es scheint also Optimierungspotential zu geben.

Ich denke, auch wir, die wir für die hygienischen und infektionspräventiven Standards verantwortlich sind, dürfen nicht unreflektiert ein „weiter so“ propagieren, sondern werden Nachhaltigkeitsaspekte stärker in unsere Entscheidungen mit einfließen lassen (müssen).

Im anstehenden, aus meiner Sicht notwendigen Veränderungsprozess sollten folgende Grundregeln berücksichtigt werden:

  1. Eine Patient*innengefährdung durch Reduktion krankenhaushygienisch notwendiger Maßnahmen ist zu vermeiden. Dies ist umso wichtiger, als aktuell unter dem Deckmäntelchen der Nachhaltigkeit versucht werden könnte, etablierte Hygieneregime und –prozesse abzuschaffen, die schon immer „lästig“ erschienen. Daher ist es essentiell, dass die hygienische Fachexpertise bei der Erstellung und Revision von Hygienestandards handlungsleitend ist und bleibt.

  2. Eine Reevaluation hygienischer Standards (aus der der Bewertung unter 1 zugrunde liegenden) mit Blick auf ökologische Nachhaltigkeit ist vor dem Hintergrund der globalen Klimakrise nicht nur erwünscht, sondern erforderlich. Dabei kann ein Ergebnis die 1:1 Beibehaltung bestehender Regeln sein, weil ebendiese zum Schutz der Patient*innen erforderlich sind. Möglicherweise oder vielleicht sogar wahrscheinlich ergibt sich jedoch auch unter Berücksichtigung der Patient*innensicherheit ein aktuell noch nicht genutzter Spielraum. Diesen gilt es zu nutzen.

  3. Es ist nicht so trivial wie man auf den ersten Blick denken könnte. Im Kontext einer problematischen Ökobilanz denkt man sicherlich primär an die zunehmende Verwendung von Einmalmaterialien in den letzten Jahren. Will man diesen Einsatz aber vermeiden, geht das jedoch in der Regel mit erhöhtem Energieeinsatz (z. B. durch Autoklavierung oder Transportlogistik einher und die wirkliche Ökobilanz muss sorgfältig berechnet und modelliert werden. Das Ergebnis kann für Krankenhaus A auch anders ausfallen als für Krankenhaus B. Genauso wie für Produkt eins und Produkt zwei unterschiedliche Ergebnisse (z.B. je nach Herstellungsort, Transportlogistik, Anforderungen an die Wiederaufbereitung) entstehen.

  4. Unmittelbar verzichtet werden kann und sollte auf – oft aus Tradition stattfindende – nicht fachlich hygienisch geforderte und begründete Prozesse und Maßnahmen, die fälschlicherweise der Hygiene zugeordnet werden. Ein Beispiel hier kann das nicht indikationsgerechte Tragen medizinischer Einmalhandschuhe sein.

Ökologische Nachhaltigkeit wird zukünftig grundsätzlich als ein Kriterium in die Bewertungen einfließen müssen, ähnlich wie bisher schon die ökonomische Nachhaltigkeit. Es geht nicht um kurzfristige Interventionen, sondern um eine langfristige Änderung von Prozessen. Dies kann nur in einem multiperspektivischen Ansatz sowie mandatiert und unterstützt durch die Geschäftsführung erfolgen.

Was heißt das jetzt für unsere Ausgangsfrage? Ja, Hygiene hat wie jede andere medizinische Maßnahme auch einen negativen Einfluss auf die ökologische Nachhaltigkeit, indem Ressourcen verbraucht und Emissionen verursacht werden. Das hohe Gut des Patient*innenwohls und der Patient*innensicherheit rechtfertigt dies. Genauso ist es aber unser gemeinsamer Auftrag, den ökologischen Fußabdruck so klein wie möglich zu halten. Folglich ist eine rationale Risikobewertung und Abwägung erforderlich, die erschwert wird, da die Zuordnung potentiell negativer Auswirkungen nicht einfach möglich ist. Zu diesem Thema möchte auch die KRINKO aktiv beitragen mit Kommentaren zur „Nachhaltigkeit in der Hygiene“. Ziel ist es, Strategien für die effizientere Nutzung von Ressourcen und zur Minimierung schädlicher Stoffeinträge für Klima und Umwelt unter Beibehaltung der Infektionsprävention als Kernziel zu erarbeiten.

Mein Fazit: Hygiene ist Nachhaltigkeit. Nachhaltigkeit ist kein Zustand, sondern ein Prozess, der vieler kleiner Schritte und stetiger Reevaluation bedarf. Das klingt nach Arbeit, ist es auch. Dies sollte es uns aber wert sein, denn: „Wer will, dass die Welt so bleibt, wie sie ist, der will nicht, dass sie bleibt.“ (Erich Fried)

Ihre Simone Scheithauer

Ein besonderer Dank gilt meinem Team und besonders Anna Bludau MPH; Dr. med. Martin Kaase, Antonia Milena Köster und Dr. med. Karin Reimers für die Kritik und das Korrekturlesen!



Publication History

Article published online:
20 March 2024

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