Z Sex Forsch 2022; 35(01): 50-51
DOI: 10.1055/a-1744-4493
Nachruf

Cornelia Helfferich (18. Juli 1951 – 23. November 2021)

Ulrike Busch
1   Institut für Angewandte Sexualwissenschaft, Hochschule Merseburg
,
Daphne Hahn
2   Fachbereich Pflege und Gesundheit, Hochschule Fulda
› Author Affiliations
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Prof. Dr. phil. Cornelia Helfferich ((Foto: Marc Doradzillo))

Am 23.11.2021 ist Prof. Dr. Cornelia (Nena) Helfferich gestorben. Wir verlieren mit ihr eine fachlich und persönlich hochgeschätzte Kollegin, eine streitbare, fundierte und engagierte Wissenschaftlerin, die sensibel und zugleich fachpolitisch hochambitioniert und erfolgreich war. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit als Soziologin war seit vier Jahrzehnten die Gesundheit von Frauen, wobei sie Gesundheit als weiten Begriff verstand. Dazu gehörten Familie und Familienplanung, die sexuelle und reproduktive Gesundheit in Abhängigkeit von gesellschaftlich und kulturell geprägten Lebenswelten und immer wieder auch das Thema Geschlechterverhältnisse und Gewalt. Ihr Motor, ebenfalls seit vier Jahrzehnten: die Verbesserung der Lebensbedingungen und der Gesundheit von Frauen.

Cornelia Helfferich hat in diesen Feldern eine national und international beachtliche Forschungsarbeit geleistet. Sie erwarb sich durch ihre innovative Verknüpfung von quantitativer und qualitativer Sozialforschung bleibende Anerkennung. Zahlreiche Publikationen sprechen von ihrer unermüdlichen Produktivität. Ihre Forschungen waren von hohem wissenschaftlichem Niveau ebenso gekennzeichnet wie von ihrer Fähigkeit und dem Willen, die Erkenntnisse in den (fach-)politischen Diskurs zu tragen und für das fachliche Handeln von Professionellen fruchtbar zu machen. Über diese Fähigkeiten verfügen nur wenige. Studierenden unterschiedlicher Fachrichtungen war sie eine engagierte Förderin und bereicherndes Vorbild, jungen Nachwuchswissenschaftler*innen eine engagierte Mentorin. Praktiker*innen und Verantwortlichen in Verbänden, Fachgesellschaften oder staatlichen Institutionen war sie ein bereicherndes, anregendes und zugleich neugieriges Gegenüber im Theorie-Praxis-Diskurs. Ihre Expertise und Leidenschaft haben sich übertragen, sei es in ihren Veröffentlichungen, aber auch in ihren öffentlichen Auftritten und Vorträgen. Indem sie politikberatend tätig war, sei dies über Gutachten, Stellungnahmen in Anhörungen oder das prägende Mitwirken an einschlägigen Projekten, versuchte sie, über die Ergebnisse ihrer Forschung die Lebensbedingungen vor allem von Frauen zu verbessern. Für sie selbstverständlich gehörten ein entsprechendes Engagement in Fachgesellschaften wie der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Soziologie und ihre Arbeit für Sachverständigenkommissionen oder Kommissionen zur Institutionalisierung der Frauen- und Geschlechterforschung dazu.

Die Themen Kinderwunsch, gewollte und ungewollte Schwangerschaft sowie Schwangerschaftsabbruch gehörten seit langem zu ihrem bevorzugten Forschungsinteresse, wusste sie doch, welch zentrale Bedeutung im Leben von Frauen diese Aspekte haben und wie gerade hier das Private ganz politisch ist. Schon in den 1980er-Jahren gehörte sie zu einer Gruppe junger Wissenschaftler*innen bei der Gesellschaft für sozialwissenschaftliche Forschung in der Medizin mbH (GESOMED) in Freiburg, die sich mit Fragen der Umsetzung des reformierten § 218 StGB in ihren unterschiedlichen Facetten kritisch auseinandersetzte. Sie gründete Mitte der 1990er-Jahre das Sozialwissenschaftliche Forschungsinstitut zu Geschlechterfragen Freiburg (SoFFI F.) und war Mitinitiatorin und Mitautorin des ersten, im Jahr 2000 erschienenen Berichts zur gesundheitlichen Situation von Frauen in Deutschland. Auch dort war ihre Handschrift sichtbar. Ohne sie hätte es das Kapitel „Reproduktive Biographien und reproduktive Gesundheit“ vermutlich nicht gegeben. Vergleichbares gab es auch international nicht in einem Gesundheitsbericht. Themen, die üblicherweise nicht als Gegenstand der Gesundheitsberichterstattung vorkamen, wurden hier erstmals in ihrer Bedeutung für Frauen deutschlandweit, aber auch noch differenziert in Ost und West aufgenommen. Dazu gehörten selbstverständlich Familienplanung und Verhütung, Schwangerschaft und Geburt sowie auch Schwangerschaftsabbruch.

Unter ihrer Leitung sind in ihrem Institut zahlreiche Forschungsprojekte angesiedelt gewesen. Viele davon hat sie selbst initiiert, weil sie durch ihre umfangreichen Forschungen gut begründen konnte, welche Fragen als nächste dringend beantwortet werden müssen, und sie stieß auf offene Ohren. Hervorgehoben werden soll an dieser Stelle auch ihre Rolle bei den „frauen leben“-Studien und deren Folgeprojekten, gefördert durch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Kernpunkt waren die Untersuchungen zu Kinderwunsch und Familienplanung, gekennzeichnet durch ein weites sozialwissenschaftliches Verständnis von Familienplanung als Lebensplanung und unter Berücksichtigung der Vielfalt reproduktiver Biografien in ihrem jeweiligen Zeit- und Gesellschaftsbezug. Kulturelle Einflüsse im Kontext von Migrationserfahrungen standen ebenso im Fokus wie die unterschiedlichen Kulturen von Frauen in Ost- und Westdeutschland. Wie kaum eine Forscherin aus den alten Bundesländern ging sie mit den Ost-West-Unterschieden beeindruckend sachlich und angstfrei um. „Sie hatte da so etwas wie eine unbestechliche Neugier“, berichten Kolleg*innen wie Prof. Kurt Starke aus der Zusammenarbeit. Und sowohl die Forschungsmethodik und die Ergebnisse als auch die respektvolle Zusammenarbeit mit Praktiker*innen und Wissenschaftler*innen aus den neuen Bundesländern zeugen davon.

Diese Studien (die „frauen leben“-Studie ebenso wie die „männer leben“-Studie) bieten einen einzigartigen Fundus an empirischen Daten und sie verbinden auf sehr erkenntnisreiche und nachvollziehbare Weise repräsentative Zahlen mit Erfahrungsberichten aus dem umfangreichen Interviewmaterial.

Diese Auseinandersetzungen, Interessen und Motive bildeten eine wesentliche Grundlage dafür, sich in einem Verbund mit anderen Wissenschaftlerinnen von insgesamt sechs Universitäten und Hochschulen für die im September 2019 durch das Bundesministerium für Gesundheit veröffentliche Ausschreibung zur „Förderung von Forschungsvorhaben zu psychosozialer Situation und Unterstützungsbedarf von Frauen mit ungewollter Schwangerschaft“ zu bewerben. Ein großes Anliegen war ihr, diese Studie dem damaligen konservativen Gesundheitsministerium durch einen qualitativ hochwertigen Antrag sozusagen „abzutrotzen“, damit das in Deutschland in dieser Frage nach wie vor restriktive Frauenrecht nicht durch falsche Projektansätze noch weiter ausgehöhlt wird. Im Antrag trug vor allem der Teil inhaltlich und methodisch maßgeblich ihre Handschrift, der die Lebenssituationen der Frauen betrifft und an dem fast alle der kooperierenden Hochschulen mit unterschiedlichen Teilfragen beteiligt sind. Die Kolleg*innen im Projektverbund waren beflügelt durch die kreative und uneigennützige gemeinsame Arbeitsweise. In einem aufwendigen Begutachtungsverfahren konnte sich der Antrag durchsetzen.

Am 1. November 2020 startete dieses einmalige Projekt – „ELSA (Erfahrungen und Lebenslagen ungewollt Schwangerer. Angebote der Beratung und Versorgung)“. In den ersten Monaten noch haben alle Mitwirkenden und eine neue Generation junger wissenschaftlicher Mitarbeiter*innen im gemeinsamen kommunikativen Miteinander von ihren Erfahrungen profitiert. Cornelia Helfferich ließ sie an ihren Erfahrungen teilhaben, ohne auf unangenehme Weise zu belehren, inspirierte und setzte aber auch auf klare Weise wichtige Prämissen. Sie besaß ein großes Beharrungsvermögen bei Themen, die ihr wichtig waren, und konnte ihre Ziele mit dem für sie typischen Eigensinn konsequent verfolgen. Ein kooperativer Arbeitsstil war ihr wesenseigen – im Interesse des Forschungsanliegens und ihrer Neugier auf eine kreative Zusammenarbeit. Das zeigte sich im Ringen um Denkansätze, Begriffe und methodische Herangehensweisen sowie an der Sensibilität für die Brisanz des Themas und die Genauigkeit der Fragestellungen. Theoretisch fundiert, wie es im Wesen ihrer Arbeit lag, wurde im Projekt viel über Konzepte diskutiert, bis es eine gemeinsame überzeugende Lösung gab. Der Verlust, der uns fachlich und persönlich getroffen hat, wiegt schwer. Die an ELSA Beteiligten tun alles ihnen Mögliche, um die Arbeit in ihrem Sinne fortzusetzen.

Cornelia Helfferich war eine Wissenschaftlerin durch und durch und ein persönlich sehr zugewandter und offener Mensch. Wir kennen sie vor allem als Person, deren Leben aus Arbeit bestand, die sie mit Freude erfüllte. Sie hat vieles gegeben und vieles erreicht. Ihre Gedanken waren immer auch auf Künftiges gerichtet: einen erfolgreichen Abschluss von ELSA zu planen, ein Institut in Deutschland zu befördern, das sich den Themen der reproduktiven und sexuellen Gesundheit ähnlich annimmt wie das Guttmacher Institute in den USA. Und last but not least wollte sie mit uns feiern – ihren 70. Geburtstag, den sie dann doch nicht mehr feiern konnte. Im Frühjahr 2022 soll es in Freiburg eine Tagung ihr zu Ehren geben.



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Article published online:
08 March 2022

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