Psychother Psychosom Med Psychol 2022; 72(05): 178
DOI: 10.1055/a-1691-3186
Psycho-Skop

Evidenzbasierte personalisierte Psychotherapie: eine prospektive Studie

In der Praxis personalisieren TherapeutInnen ihr Behandlungsangebot, indem sie Therapien intuitiv und aufgrund ihrer klinischen Erfahrung an die Bedürfnisse der PatientInnen anpassen. Die vorliegende Studie untersucht die Effektivität eines digitalen klinischen Vorhersage- und Navigationssystems und verdeutlicht die Bedeutung von prospektiven Studien sowie einer qualitativ hochwertigen Implementierung solcher Systeme in der klinischen Praxis.

In der Medizin ist das Konzept der Personalisierung bereits gängige Praxis. In der psychotherapeutischen Versorgung werden bei einer evidenzbasierten personalisierten Psychotherapie zusätzliche patientenspezifische Informationen und Kontextbedingungen berücksichtigt. Dies soll eine optimale individuelle Behandlung ermöglichen, um die Wahrscheinlichkeit eines Behandlungserfolgs für die einzelnen PatientInnen zu erhöhen. Hierbei sind zwei Forschungsstränge herauszustellen. Zum einen gibt es den Bereich der personalisierten klinischen Strategieempfehlung zu Therapiebeginn, worunter Entscheidungen fallen wie die Auswahl einer Behandlungsmodalität, eines Verfahrens oder eines Manuals. Der andere Strang fokussiert auf adaptive Entscheidungen innerhalb der Behandlung. Hierbei werden beispielsweise bestimmte Verlaufstypen oder RisikopatientInnen identifiziert und die Behandlung entsprechend angepasst.

In dem softwaregestützten Vorhersage- und Navigationssystems der Psychotherapiembulanz in Trier, dem Trierer Behandlungsnavigator (Trier Treatment Navigator, TTN), werden patientenspezifischer Empfehlungen: 1) eine klinische Strategieempfehlung und 2) adaptive Empfehlungen für PatientInnen mit dem Risiko eines negativen Therapieverlaufs integriert und den TherapeutInnen zur Verfügung gestellt. Der TTN liefert zudem Rückmeldungen über RisikopatientInnen sowie entsprechende klinische Unterstützungstools und stellt somit eine Unterstützung bei der täglichen Entscheidungsfindung dar.

Die vorliegende Studie ist eine der ersten prospektiven Studien zur Umsetzung eines auf Methoden des maschinellen Lernens aufbauenden digitalen Tools zur Unterstützung klinischer Entscheidungen. Die Entwicklungsstichprobe des Navigationssystems umfasste 1234 PatientInnen, die mit kognitiver Verhaltenstherapie behandelt wurden. Es wurden Therapeuten-Patienten-Dyaden (N=538) der Psychotherapieambulanz entweder der Interventionsgruppe (IG, n=335) oder der Kontrollgruppe KG, (n=203) zugeteilt, wobei die Interventionsgruppe Zugang zu dem TTN erhielt. Moderne statistische Methoden des maschinellen Lernens wurden verwendet, um personalisierte Behandlungsempfehlungen zu erstellen. Es wurden sowohl die klinischen Strategieempfehlungen zu Therapiebeginn evaluiert, als auch die adaptiven Behandlungsempfehlungen.

Die prospektive Auswertung zeigte, dass diejenigen PatientInnen größere frühe Verbesserungen aufwiesen, bei denen die vom TTN empfohlenen Behandlungsstrategien in den ersten zehn Sitzungen umgesetzt wurden. Die differentielle Effektgröße beträgt hierbei etwa .3. Darüber hinaus, erwiesen sich in den linearen gemischten Modellen die Differenz der Symptomeinschätzungen von TherapeutInnen und PatientInnen sowie die Einstellung und das Vertrauen der TherapeutInnen als signifikante Prädiktoren. Zusätzlich zeigte sich die von TherapeutInnen eingeschätzte Nützlichkeit des Systems als signifikanten Moderator des Feedbackeffektes und des Effektes für RisikopatientInnen. Demnach scheinen TherapeutInnen, die das das System als nützlich einstuften und dieses gezielt nutzen, um spezifische Modifikationen vorzunehmen, erfolgreicher zu sein. Dies gilt insbesondere für PatientInnen mit einem Risiko für einen negativen Therapieverlauf. Die Ergebnisse verdeutlichen, wie wichtig prospektive Studien und eine qualitativ hochwertige Implementierung von digitalen Werkzeugen in der klinischen Praxis sind.

Fazit

Der Einsatz digitalen klinischen Vorhersage- und Navigationssystems kann zu einer Verbesserung der Ergebnisse von PatientInnen beitragen, wenn TherapeutInnen diese richtig anwenden. Dementsprechend sollten frühzeitig Überlegungen hinsichtlich der Implementierung sowie Schulung zur effizient Nutzung getroffen werden. Die Verbindung zwischen Wissenschaft und Praxis wird gerade im Hinblick auf die stets größer werdende Heterogenität bezüglich der angebotenen Behandlungsmodalität immer wichtiger.

Miriam Hehlmann, Trier



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
23. Mai 2022

© 2021. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany