Flugmedizin · Tropenmedizin · Reisemedizin - FTR 2020; 27(05): 209
DOI: 10.1055/a-1231-3153
Editorial
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Raus aus der Höhle

Oliver Ullrich
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Publication Date:
26 October 2020 (online)

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

durch Schließungen oder Zugangsbeschränkungen zu Forschungseinrichtungen greifen staatliche Maßnahmen aktuell tief in die Forschungsfreiheit ein. Die Entscheidung, ob und was noch geforscht werden darf, liegt plötzlich in den Händen von Verwaltungen. Auch die faktische Einschränkung der Reisefreiheit zerstört nicht nur die Reisebranche, sondern vernichtet auch wissenschaftliche Wertschöpfungsketten. Wissenschaft ist heute global vernetzt. Wissenschaftler sind eine sehr mobile Berufsgruppe. Die Vorstellung, dass es für gute Forschung genügt, im eigenen Labor zu hocken, stammt aus dem vorletzten Jahrhundert und ignoriert die heutige enorme Spezialisierung. Wissenschaftler reisen nicht, um an vermeintlich „schönen Orten“ auf Kongressen einmal dem „Labormief“ zu entkommen, Wissenschaftler reisen, weil sie es müssen. Sie müssen bestmögliche Forschung mit den bestmöglichen internationalen Partnern durchführen. Das ist physische, praktische Arbeit. Und sie müssen neuen Ideen eine Chance geben, die oft in und durch persönliche Kontakte und Treffen mit „echten“ Menschen zustande kommen. Davon profitieren wir alle. Wissenschaft ist Praxis und Mobilität. Der Kern der Wissenschaft ist nicht der Schreibtisch.

Wissenschaft und Forschung lassen sich auch nicht einfach nach Belieben runter- und wieder hochfahren. Wenn die weltweiten Reiseverbote noch länger andauern, sei es durch Einreiseverbote oder indirekt durch unflexible Quarantäneregeln, werden sie der globalisierten Forschung und Wissenschaft großen Schaden zufügen. Auch der medizinischen Forschung.

Die Antwort auf die Pandemielage war fast überall identisch: Ängstliches Wegducken und warten, bis es vorbei ist. Es ist aber nicht vorbei und das Virus verschwindet nicht einfach. Anstatt Schließen und Einsperren gibt es aber noch einen anderen Weg: Die Anpassung an die neue Lage, die Implementierung von risikominimierenden Prozeduren und adäquate Schutzmaßnahmen. Das ist für uns alle nichts Neues. In der Medizin und den Life Sciences gehören Schutzmaßnahmen jeglicher Art zur ganz normalen professionellen Routine. Das muss uns nicht erst von den Medien erklärt werden, die uns neuerdings lieber belehren, anstatt den offenen Diskurs zu fördern. Gerade in einer Krise braucht es das freie wissenschaftliche Denken und Arbeiten, ohne Rede- und Denkverbote, die dialogische Auseinandersetzung, gerade mit abweichenden Meinungen. Nur so entsteht neues Wissen. Nicht selten löste eines Tages eine „Außenseitermeinung“ die Mehrheitsmeinung ab. Die Wissenschaftsgeschichte ist voll davon.

Wir haben noch während den flächendeckenden Grenzschließungen in der Schweiz die 4th Swiss Parabolic Flight Campaign unter internationaler Beteiligung durchgeführt. Es war weltweit die erste Parabelflugkampagne unter Pandemiebedingungen. Sie war erfolgreich, es gab keine Zwischenfälle und keine Infektionen. Die französische Raumfahrtagentur CNES flog anschließend eine Kampagne von Bordeaux, und Ende September das DLR von Paderborn-Lippstadt. Das macht Hoffnung. Wir müssen lernen, trotz der Pandemie arbeits- und handlungsfähig zu bleiben. Es ist dringend Zeit, die Höhle wieder zu verlassen.