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DOI: 10.1055/s-2008-1075845
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Doof & Dick – Hat die Nationale Verzehrstudie II wirklich Recht?
Publication History
Publication Date:
03 April 2008 (online)
Nach der ersten gesamtdeutschen „Nationale Verzehrstudie“, bei der knapp 20000 Deutsche zwischen 14 und 80 Jahren zu Essverhalten, sportlichen Aktivitäten, Einkaufspraxis oder Lebensstil befragt wurden, sollen über die Hälfte der Bundesbürger übergewichtig sein – zwei Drittel der Männer und jede zweite Frau. Die fleißige Berichterstattung Anfang 2008 in den (fachärztlichen) Medien – obwohl die Studie noch nicht einmal komplett publiziert ist – zeigt, wie viele ausgewiesene Ernährungsexperten es in diesem Land geben muss... Selbst wenn die Studie nun alle ohnehin bekannten Vorurteile belegt, zum Beispiel die klassische „Doof & Dick“-Assoziation oder den gebetsmühlenartig wiederholten Zusammenhang von positiver Energiebilanz und Übergewicht, steht es insbesondere den Health Professionals an, Methoden, Werkzeuge, Ergebnisse, Interpretation oder Konsequenzen der Studie selbst zu überprüfen. Und sich nicht auf die eilfertige Bewertung der Lobbyisten von Ernährungs- oder pharmazeutischer Industrie und gar der Regierung zu verlassen.
#Wer trägt die Schuld an Folgekrankheiten?
Wer dick ist, ist (isst) doof, so die Verzehrstudie. Und ist damit irgendwie selber schuld an den Folgekrankheiten. Für die Lebensmittelindustrie ist das die beste aller denkbaren Rechtfertigungen ihrer Produktpalette („Niemand muss unsere Produkte verzehren ...“). Für die Regierung wiederum ist die Verzehrstudie das beste Argument, Bürger, die es nicht besser wissen, noch mehr an die Hand zu nehmen. Oder wie der Arzt Prof. Karl Kötschau formulierte: „Der völkische Staat hat in dieser Erkenntnis seine gesamte Erziehungsarbeit in erster Linie nicht auf das Einpumpen bloßen Wissens einzustellen, sondern nur auf das Heranzüchten kerngesunder Körper.“ (aus Kötschau K. Zum Aufbau einer biologischen Medizin. Stuttgart: Hippokrates-Verlag, 1936)
Adressen von themenbezogenen Informations-Websites
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Das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV, www.bmelv.de), das die Nationale Verzehrsstudie II finanziert hat, präsentiert erste Ergebnisse in Teil 1 des Ergebnisberichtes (PDF, 1,7 MB, www.bmelv.de/ cln_044/nn_1196770/DE/03-Ernaehrung/04-Forschung/NationaleVerzehrsstudie/ NVS2_node.html) sowie zusätzliche Hintergrund-Materialien. Teil 2 soll im April 2008 erscheinen.
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Die PR-Website des BMELV zu der Studie findet sich unter www.was-esse-ich.de. Wer alle Mainstream-Einschätzungen zu Übergewicht und dessen „fatalen“ Gesundheitskonsequenzen knackig zusammengefasst lesen möchte, ist mit dem 18-seitigen Pressetext gut bedient (www.was-esse-ich.de/uploads/media/NVS_Presseunterlagen_Jan08.pdf).
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Das Max Rubner-Institut in Karlsruhe (bis 31.12.2007 „Bundesforschungsanstalt für Ernährung und Lebensmittel“ genannt, www.bfel.de bzw. mri.bund.de) ist konzeptionell für die Verzehrstudie II zuständig. Warum für die Durchführung der Studien-Feldphase das Marktforschungsunternehmen TNS Healthcare GmbH (www.tns-healthcare.de) aus München den Auftrag erhalten hat, und keine deutsche Universität, wird der verantwortliche CSU-Minister Horst Seehofer sicher noch erklären.
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Der Bundeslebensmittelschlüssel (BLS) ist eines der bei Konzeption, Durchführung und Auswertung der Studie verwendeten wichtigen Werkzeuge. Die offizielle Einschätzung seiner – natürlich hohen – Wertigkeit findet sich bei dem Vermarkter, eben dem Max Rubner-Institut (www.bfel.de/cln_044/nn_783386/DE/forschung/ karlsruhe/institutfuerernaehrungsoekonomieund-soziologie/bls/bls_inhalt.html). Weitere Informationen des Institutes und eine Bestellmöglichkeit finden sich unter www.bls.nvs2.de. Kritische Informationen zum BLS gibt es auf der Website Dialyse.de (www.dialyse.de/news/200710-Der-Bundes-Lebensmittelschluessel-BLS-eine-Illusion.htm).
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Naturgemäß gibt es für ernährungsmedizinische Minderheiten-Meinungen kaum eigene Internet-Präsenzen. Beispielsweise nicht zum „Adipositas-Paradoxon“ (u. a. signifikant bessere Myokardinfarkt-Rezidivprophylaxe bei Übergewichtigen gegenüber Normalgewichtigen), das übergewichtsbedingte Mortalitätsvorteile bestimmter Patientengruppen aufzeigt (www.aerzteblatt-studieren.de/doc.asp?docId= 104714). Auch die äußerst dürftige wissenschaftliche Bedeutung und prognostische Aussagekraft des bei der Verzehrstudie als Parameter der Übergewichtigkeit zugrunde gelegten Body Mass Index wird meist nur hinter vorgehaltener Hand diskutiert (Moderner Aberglaube: der Körpermassewert www.dradio.de/dkultur/ sendungen/mahlzeit/442382/).


Abb. 1 Mit Plakaten will der Deutsche Sportbund Übergewicht bekämpfen


Abb. 1 Mit Plakaten will der Deutsche Sportbund Übergewicht bekämpfen