Notfall & Hausarztmedizin 2008; 34(3): 111
DOI: 10.1055/s-2008-1075843
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Jedem alten Patienten ein alter Hausarzt?

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Publication Date:
03 April 2008 (online)

Ist er ein Segen oder eine Gefahr für den Patienten, der alte Arzt? Eine Gefahr, weil er stehen geblieben ist im Entwicklungsstrudel der Wissenschaft, die neuesten Computerdiagnostiken nicht zu handhaben weiß, sich in Weiterbildungen fremd vorkommt, Mühe hat mit den jetzt amerikanischen Fachausdrücken? Psychosomatiker haben uns gelehrt, die „schulmedizinische“ Sichtweise um die Facette des Erlebens einer Krankheit zu erweitern. Dies scheint besonders beim alten, betagten Menschen eine besondere Rolle zu spielen. Dilthey sieht Erleben allgemein in Zusammenhängen, nicht als eine Summe von einzelnen Erlebnissen. Erklärungen seien das Grundprinzip der Naturwissenschaften. Für Geisteswissenschaften müsse das Prinzip des Verstehens zugrunde gelegt werden. Hier drängen sich Begriffe wie Geriatrie und Gerontologie auf und man ist geneigt, neben dem Erklären von Alterserkrankungen auch das Verstehen der betroffenen Menschen zu fordern.

Kann das ein alter Arzt besser, weil er Altersbeschwerden selbst erlebt und im Entwicklungsprozess des Lebens auf gleicher Stufe steht? Sind hier das subjektive Nachvollziehen, der persönliche Bezug, das Verstehen nicht wesentliche Ergebnisse der Kommunikation, welche möglicherweise bereits einen bedeutsamen Teil der Therapie ausmacht? Der junge Arzt versteht unter Erkrankungen in der Regel naturwissenschaftlich zu deutende Abweichungen von der Norm. Befunde haben einer als gesund definierten Maßeinheit zu entsprechen, sonst werden sie als pathologisch definiert und versucht, einer Störung zuzuordnen. Für den Patienten jedoch scheint die Wertigkeit einer Pathologie unterschiedlich. Der entscheidende Parameter ist vor allem das Alter und die damit einhergehenden Veränderungen und Zustände. Messbar ist der „Benefit“, den der Patient – auf sein biologisches Alter bezogen – von einer medizinischen Maßnahme hat, nur aus einer Vielzahl von Patienten.

Bedeutsam scheint eher der Einfluss der Lebensvorstellungen des Einzelnen, wenn er vom Arzt über eine gefundene Pathologie informiert wird. Mit dem Alter verändern sich die Einstellungen zur Umwelt und zum eigenen Körper und der selbst betagte Arzt hat die Veränderungen bereits verinnerlicht. So kann er im Gespräch mit seinem alten Patienten offen oder diskret die eigenen Erfahrungen einbringen und es entsteht der Eindruck von Gemeinsamkeit, Verbundenheit, ein „Wir-Gefühl“. Die Lebensgeschichte ist ein wesentlicher Schlüssel zum Verständnis des Krankheitserlebnisses und zur Akzeptanz von Defiziten, die mit einer Krankheit einhergehen und der Wunsch, aus seinem Leben zu erzählen, ist bei alten Menschen sehr hoch. Der Philosoph Odo Marquard formuliert: „Denn die Menschen: das sind ihre Geschichten. Geschichten aber muss man erzählen ... und je mehr versachlicht wird, desto mehr – kompensatorisch – muss erzählt werden: sonst sterben die Menschen an narrativer Atrophie.“ Ein Kind ist offenbar kein kleiner Erwachsener, aber ist denn ein Greis ein alter Erwachsener?

Diagnostische und therapeutische Grenzen für den alten Menschen zu ziehen, löst hochemotionale Ethikdebatten aus. Der Streit um die Definition der „Würde“ des Menschen (1. Artikel des Grundgesetzes) hat erst begonnen. Kann man die Vergänglichkeit des Lebens erspüren, erahnen oder muss man sie am eigenen Leibe im Zusammenhang mit Altersprozessen selbst erleben? Erreicht ein alter Arzt, der schweigend und „wissend“ zuhört nicht mehr als eifrige Diagnostik und Therapie eines pflichtbewussten und erfolgsorientierten jungen Kollegen? Sicherlich spielt hier auch die Wahrnehmung eine Rolle, das Verhalten Älterer als weniger defizitär einzustufen und sinnvolle Handlungsweisen zu honorieren und zu verstärken. Das Bundesverfassungsgericht urteilte am 31.03.1998: „Denn nach allgemeiner Lebenserfahrung bestehe die Gefahr, dass bei älteren Menschen die Leistungsfähigkeit nachlasse. Daher diene die Altersgrenze dazu, Gefährdungen der Patienten durch nicht mehr voll leistungsfähige Ärzte einzudämmen.“ Auch ist zu berücksichtigen, dass der Arzt nicht selten der einzige, und manchmal auch der letzte soziale Kontakt seines alten Patienten ist. Wie lange sollte ein Arzt praktizieren dürfen? Ab wann stellt er eine „Gefährdung“ für seine Patienten dar und wer bemisst die Leistungsgrenze? Warum sollte er nicht das Privileg genießen, nie in den Ruhestand gehen zu müssen?

Dr. med. Ulrich Rendenbach
Dipl.-Psych. Katrin Große

Leipzig

Dresden

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