Z Orthop Unfall 2008; 146(2): 173-174
DOI: 10.1055/s-2008-1038480
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Iatrogene Schäden - Fehlervermeidung in Orthopädie und Unfallchirurgie

Iatrogenic Injuries - Avoiding Errors in Orthopaedics and Traumatology
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Prof. Dr. med. Fritz U. Niethard

Orthopädische Klinik
Universitätsklinik der RWTH Aachen

Pauwelsstraße 30

52074 Aachen

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Fax: 02 41/8 08-24 53

Email: funiethard@orthopaedie-aachen.de

Prof. Dr. med. Kuno Weise

BG-Unfallklinik

Schnarrenbergstraße 95

72076 Tübingen

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Publication History

Publication Date:
10 April 2008 (online)

Table of Contents
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F. U. Niethard

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K. Weise

…. wegen eines vereiterten Zahnes erhält ein Patient eine Penicillin-Spritze, gegen die er aber allergisch ist und einen Schock erleidet. Dieser wird mit hochdosierten Kortikosteroiden behandelt, was zum blutenden Magenulcus führt, das wiederum - weil unstillbar - chirurgisch angegangen werden muss. Im Zusammenhang mit der Magenoperation erhält der Patient mehrere Blutkonserven mit den Folgen einer Hepatitis. Letztlich verstirbt der Patient im Coma hepaticum …

Dieses fiktive Horrorszenario wird bereits Anfang der 70er-Jahre in einem Kongress über „Iatrogenic diseases“ beschrieben, um auf die Gefährlichkeit der modernen Medizin und die sog. „side effects“ hinzuweisen. Die erste in Medline erfasste Literatur zu diesem Thema reicht sogar bis Anfang 1950 zurück und das „primum nil nocere“ als Wahlspruch aus der hippokratischen Tradition ist zentrales Gedankengut der Medizin bis heute.

Die Ende Februar 2008 vom „Aktionsbündnis Patientensicherheit“ [[1]] vorgestellte Publikation „Aus Fehlern lernen“ scheint allerdings zu vermitteln, dass sich die Ärzte erst jetzt ihres Tun und Handelns bewusst sind und die Patientensicherheit als Aufgabe erkannt haben. In dieser Broschüre bekennen sich Ärztinnen und Ärzte, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von pflegerischen und therapeutischen Berufen zu eigenen Fehlern und Beinah-Fehlern und haben damit eine Flut an Reaktionen in Medien ausgelöst; denn „Fehler, noch dazu ärztliche, sind für Journalisten ein dankbares Thema“. Kommt es zu einer Seitenverwechslung in der Chirurgie oder wurde einem Patienten ein falsches Medikament verabreicht, stürzen sich diese darauf. Getreu dem Motto „Jeder Fehler erscheint unglaublich dumm, wenn andere ihn begehen“ [[2]].

Von zahlreichen Vertretern der Gesundheitsverbände wurde die Initiative begrüßt, sei sie doch ein Einstieg in eine neue Fehlerkultur. Dieser Einstieg war - wohlgemeint - vom Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie schon 2005 anlässlich des 122. Chirurgen-Kongresses bewusst gewählt worden. Heraus kam eine „ungewollte Verunsicherung“ [[3]]. Denn in den Medien hieß es, dass mehr Tote durch Ärztepfusch als im Straßenverkehr zu beklagen seien. Und so schlug denn die beabsichtigte Offenheit im Umgang mit ärztlichen Fehlern in das Gegenteil um: eine Angstkampagne ohne jeglichen Ansatz für einen differenzierten Umgang mit dem Thema. Ein Thema, das vorrangig die chirurgischen Fächer zu betreffen scheint. Inwieweit sind denn nun auch Orthopädie und Unfallchirurgie involviert?

Nach einer Statistik über die Verfahren in der norddeutschen Schlichtungsstelle sind Orthopädie und Unfallchirurgie gemeinsam sogar am häufigsten betroffen ([Tab. 1]): Ungefähr ein Drittel der in der norddeutschen Schlichtungsstelle 2000 - 2003 anhängigen Verfahren betrifft Orthopädie und Unfallchirurgie. Die häufigsten Diagnosen sind: Extremitätenfrakturen, Cox- und Gonarthrose, Bandscheiben- und Kniegelenkschäden [[4]]. Ist hier etwa doch eine bedrohliche Entwicklung in der Orthopädie und Unfallchirurgie im Gange, ohne dass sie von den Fachgesellschaften bemerkt worden wäre?

Tab. 1 Verfahren in der norddeutschen Schlichtungsstelle 2000 - 2003, Fachgebiete der Ärzte/Krankenhäuser [[4]]

Chirurgie ohne Unfallchirurgie

2 706

Chirurgie/Teilgebiete

4 876

  • davon Unfallchirurgie

2 170

Orthopädie

1 456

  • Orthopädie und Unfallchirurgie

3 626

Frauenheilkunde, Geburtshilfe

1 557

Innere Medizin/Teilgebiete

1 011

In der Statistik von Scheppokat und Neu [[4]] sind ca. 30 % der Patientenschäden fehlerverursacht und die Patientenansprüche somit begründet. Als wesentliche Ursachen von Patientenschäden werden die hochkomplexen operativen Eingriffe (und damit die Kompetenz des Operateurs) sowie Kommunikationsdefizite aufgeführt. Damit sind die beiden Komplexe „Aus-, Weiter- und Fortbildung“ sowie „Struktur- und Prozessqualität“ angesprochen, um die sich die Fachgesellschaften seit jeher bemühen.

Es ist nicht zum ersten Mal, dass sich auch die Zeitschrift für Orthopädie und Unfallchirurgie mit der Qualitätssicherung im Fach beschäftigt [[5], [6], [7]]. In diesem Heft nun wird in der Arbeit „Risikomanagement zur Fehlervermeidung im Krankenhaus“ nur eine der zahlreichen Einflussgrößen auf die Ergebnisqualität näher beleuchtet. Es geht um die Kommunikation unter Ärzten, die umso mehr geschult werden muss, je häufiger und je intensiver sie beansprucht wird [[8]]. Die ungebrochene Ökonomisierung des Gesundheitssystems, die sich daraus ergebende Personalnot [[9]], neue Versorgungsstrukturen (z. B. fachübergreifende Dienste), Arbeitszeitgesetze und überbordende Demokratie beeinträchtigen die Patientenversorgung nicht erst heute [[10]]. Auf die sich daraus ergebenden Konsequenzen haben die Fachgesellschaften DGOOC und DGU wiederholt hingewiesen. Die Autoren der o. g. Arbeit betonen daher zu Recht, dass die organisatorischen Rahmenbedingungen, unter denen Ärzte und Pflegekräfte in Akut-Kliniken arbeiten, bereits durch hohe Belastungsspitzen besonders fehleranfällig sind. In solchen Situationen auftretende Kommunikationsprobleme und Missverständnisse gehören zu den häufigsten Fehlerursachen in der Medizin. Es ist daher naheliegend, sich Vorbilder z. B. aus der Luftfahrt zu beschaffen, die Vorgaben für eine strukturierte Kommunikation bieten.

Die Luftfahrt hat ja auch bei der Einführung des sog. „critical incident reporting system“ (CIRS) Pate gestanden, das in der Schweiz und nun auch in Deutschland Licht in die vermeintlich große Dunkelziffer von „Beinahe-Unfällen“ oder Unfällen bringen soll [[11]]. Ein derartiges System ist nachhaltig zu unterstützen, wenn es denn nicht von der Sensationsgier der Medien instrumentalisiert und ausgehöhlt wird. Wenn denn schon zunehmend häufiger der Vergleich zwischen Chirurg und Pilot hergestellt wird: ein „Aktionsbündnis Fluggastsicherheit“ und ein öffentliches Bekenntnis von Pilotinnen und Piloten zu ihren Fehlern und Beinahe-Fehlern ist bisher nicht bekannt. Dass die Ergebnisqualität bei der Behandlung von Patienten nicht erst durch ein „critical incident reporting system“ überprüft werden muss, ist den Gesellschaften DGOOC und DGU allgegenwärtig. Die Orthopädie ist originär präventiv und damit auf die Vermeidung von Schäden ausgerichtet. Qualitätssichernde Maßnahmen durch die Etablierung von Mindestmengen oder auch durch die Einrichtung eines Endoprothesenregisters werden seit Langem gefordert. Die Unfallchirurgie weiß, dass der Wettlauf der lebensbedrohlichen Situation eines Schwerverletzten nur durch eine entsprechende Struktur- und Prozessqualität gewonnen werden kann. Entsprechend hoch muss die Arbeit von Kommissionen, berufsständischen Ausschüssen und Anderen gewichtet werden, die sich mit der Erstellung von Leitlinien bis hin zur Abfassung des „Weißbuches Schwerverletztenversorgung“ [[12]] beschäftigt haben. Zur Verbesserung der Versorgung von Verletzten vom Unfallort bis in die klinische Versorgung wurde nun zusätzlich das Programm „Safe : trac“ auf den Weg gebracht.

Nicht zuletzt aber ist der Einsatz der Fachgesellschaften für Aus-, Weiter- und Fortbildung zu würdigen, denn Beinahe-Fehler können vom kompetenten Arzt antizipiert und von vornherein vermieden werden. So gesehen ist die Fehlerbekenntnis von Ärztinnen und Ärzten in der Broschüre des „Aktionsbündnisses Patientensicherheit“ eine deutliche Warnung gegenüber den Empfehlungen des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Dieser hatte ja die „Arztzentriertheit“ des Gesundheitswesens kritisiert und dazu aufgerufen, anderen ärztlichen Gesundheitsberufen mehr medizinische Verantwortung zu übertragen. Dass die unkritische Delegation ärztlicher Leistungen auf nicht ärztliche Berufe Kompetenz abbaut und neue Schnittstellen entstehen lässt und damit auch Risiken heraufbeschwört, ist nach Meinung des Fachanwaltes für Medizinrecht Dr. jur. Albrecht Wienke schon jetzt vorauszusehen [[13]].

Die Fachgesellschaften werden sich daher weiterhin intensiv um eine Qualifikation ihres Berufsstandes in Aus-, Weiter- und Fortbildung kümmern, denn „wer etwas richtig gelernt hat, wird es auch richtig machen“.

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Literatur

  • 1 Aus Fehlern lernen - Aktionsbündnis Patientensicherheit. Bonn; KomPart-Verlagsgesellschaft mbH & Co KG 2008
  • 2 Merten M. Fehlerbekenntnis löst Flut an Reaktionen aus.  Deutsches Ärzteblatt. 2008;  105 B477-B448
  • 3 Merten M. Ungewollte Verunsicherung.  Deutsches Ärzteblatt. 2005;  102 A1021
  • 4 Scheppokat K D, Neu J. Medizinische Daten und Qualitätsmanagement.  Deutsches Ärzteblatt. 2007;  104 A3172-A3177
  • 5 Niethard F U. Wie wichtig ist die Orthopädie für die Studenten?.  Z Orthop. 1999;  137 199-200
  • 6 Niethard F U. DRG's: Die Orthopädie zwischen Winkelmesser und „Case Mix“.  Z Orthop. 2001;  139 277-278
  • 7 Niethard F U. Weiterbildung und Arbeitszeitgesetz: Wie werden aus Ärzten gute Orthopäden?.  Z Orthop. 2001;  139 467-468
  • 8 Schmidt C, Ramsauer B, Witzel K. Risikomanagement zur Fehlervermeidung im Krankenhaus: Standard Operating Procedures aus der Luftfahrt als Vorbild für eine strukturierte Kommunikation im Klinikalltag.  Z Orthop Unfall. 2008;  146 175-178
  • 9 Rabbata S. Die Angst steht mit am Operationstisch.  Deutsches Ärzteblatt. 2003;  100 A668-A670
  • 10 Hibbeler B. Wenn Sparen zum Risiko wird.  Deutsches Ärzteblatt. 2007;  104 A2241-A2242
  • 11 Merten M. Fehlermeldesysteme - Schweiz als Vorreiter.  Deutsches Ärzteblatt. 2004;  101 A162
  • 12 Weißbuch Schwerverletztenversorgung. Berlin; Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie e. V. 2006
  • 13 Wienke A. Deutsches Ärzteblatt. 2008;  105 A492

Prof. Dr. med. Fritz U. Niethard

Orthopädische Klinik
Universitätsklinik der RWTH Aachen

Pauwelsstraße 30

52074 Aachen

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Fax: 02 41/8 08-24 53

Email: funiethard@orthopaedie-aachen.de

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Fax: 0 70 71/6 06-10 02

Email: weise@bgu-tuebingen.de

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Literatur

  • 1 Aus Fehlern lernen - Aktionsbündnis Patientensicherheit. Bonn; KomPart-Verlagsgesellschaft mbH & Co KG 2008
  • 2 Merten M. Fehlerbekenntnis löst Flut an Reaktionen aus.  Deutsches Ärzteblatt. 2008;  105 B477-B448
  • 3 Merten M. Ungewollte Verunsicherung.  Deutsches Ärzteblatt. 2005;  102 A1021
  • 4 Scheppokat K D, Neu J. Medizinische Daten und Qualitätsmanagement.  Deutsches Ärzteblatt. 2007;  104 A3172-A3177
  • 5 Niethard F U. Wie wichtig ist die Orthopädie für die Studenten?.  Z Orthop. 1999;  137 199-200
  • 6 Niethard F U. DRG's: Die Orthopädie zwischen Winkelmesser und „Case Mix“.  Z Orthop. 2001;  139 277-278
  • 7 Niethard F U. Weiterbildung und Arbeitszeitgesetz: Wie werden aus Ärzten gute Orthopäden?.  Z Orthop. 2001;  139 467-468
  • 8 Schmidt C, Ramsauer B, Witzel K. Risikomanagement zur Fehlervermeidung im Krankenhaus: Standard Operating Procedures aus der Luftfahrt als Vorbild für eine strukturierte Kommunikation im Klinikalltag.  Z Orthop Unfall. 2008;  146 175-178
  • 9 Rabbata S. Die Angst steht mit am Operationstisch.  Deutsches Ärzteblatt. 2003;  100 A668-A670
  • 10 Hibbeler B. Wenn Sparen zum Risiko wird.  Deutsches Ärzteblatt. 2007;  104 A2241-A2242
  • 11 Merten M. Fehlermeldesysteme - Schweiz als Vorreiter.  Deutsches Ärzteblatt. 2004;  101 A162
  • 12 Weißbuch Schwerverletztenversorgung. Berlin; Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie e. V. 2006
  • 13 Wienke A. Deutsches Ärzteblatt. 2008;  105 A492

Prof. Dr. med. Fritz U. Niethard

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