F. U. Niethard
K. Weise
…. wegen eines vereiterten Zahnes erhält ein Patient eine Penicillin-Spritze, gegen
die er aber allergisch ist und einen Schock erleidet. Dieser wird mit hochdosierten
Kortikosteroiden behandelt, was zum blutenden Magenulcus führt, das wiederum - weil
unstillbar - chirurgisch angegangen werden muss. Im Zusammenhang mit der Magenoperation
erhält der Patient mehrere Blutkonserven mit den Folgen einer Hepatitis. Letztlich
verstirbt der Patient im Coma hepaticum …
Dieses fiktive Horrorszenario wird bereits Anfang der 70er-Jahre in einem Kongress
über „Iatrogenic diseases“ beschrieben, um auf die Gefährlichkeit der modernen Medizin
und die sog. „side effects“ hinzuweisen. Die erste in Medline erfasste Literatur zu
diesem Thema reicht sogar bis Anfang 1950 zurück und das „primum nil nocere“ als Wahlspruch
aus der hippokratischen Tradition ist zentrales Gedankengut der Medizin bis heute.
Die Ende Februar 2008 vom „Aktionsbündnis Patientensicherheit“ [[1]] vorgestellte Publikation „Aus Fehlern lernen“ scheint allerdings zu vermitteln,
dass sich die Ärzte erst jetzt ihres Tun und Handelns bewusst sind und die Patientensicherheit
als Aufgabe erkannt haben. In dieser Broschüre bekennen sich Ärztinnen und Ärzte,
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von pflegerischen und therapeutischen Berufen zu
eigenen Fehlern und Beinah-Fehlern und haben damit eine Flut an Reaktionen in Medien
ausgelöst; denn „Fehler, noch dazu ärztliche, sind für Journalisten ein dankbares
Thema“. Kommt es zu einer Seitenverwechslung in der Chirurgie oder wurde einem Patienten
ein falsches Medikament verabreicht, stürzen sich diese darauf. Getreu dem Motto „Jeder
Fehler erscheint unglaublich dumm, wenn andere ihn begehen“ [[2]].
Von zahlreichen Vertretern der Gesundheitsverbände wurde die Initiative begrüßt, sei
sie doch ein Einstieg in eine neue Fehlerkultur. Dieser Einstieg war - wohlgemeint
- vom Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie schon 2005 anlässlich des
122. Chirurgen-Kongresses bewusst gewählt worden. Heraus kam eine „ungewollte Verunsicherung“
[[3]]. Denn in den Medien hieß es, dass mehr Tote durch Ärztepfusch als im Straßenverkehr
zu beklagen seien. Und so schlug denn die beabsichtigte Offenheit im Umgang mit ärztlichen
Fehlern in das Gegenteil um: eine Angstkampagne ohne jeglichen Ansatz für einen differenzierten
Umgang mit dem Thema. Ein Thema, das vorrangig die chirurgischen Fächer zu betreffen
scheint. Inwieweit sind denn nun auch Orthopädie und Unfallchirurgie involviert?
Nach einer Statistik über die Verfahren in der norddeutschen Schlichtungsstelle sind
Orthopädie und Unfallchirurgie gemeinsam sogar am häufigsten betroffen ([Tab. 1]): Ungefähr ein Drittel der in der norddeutschen Schlichtungsstelle 2000 - 2003 anhängigen
Verfahren betrifft Orthopädie und Unfallchirurgie. Die häufigsten Diagnosen sind:
Extremitätenfrakturen, Cox- und Gonarthrose, Bandscheiben- und Kniegelenkschäden [[4]]. Ist hier etwa doch eine bedrohliche Entwicklung in der Orthopädie und Unfallchirurgie
im Gange, ohne dass sie von den Fachgesellschaften bemerkt worden wäre?
Tab. 1 Verfahren in der norddeutschen Schlichtungsstelle 2000 - 2003, Fachgebiete der Ärzte/Krankenhäuser
[[4]]
Chirurgie ohne Unfallchirurgie
|
2 706
|
|
Chirurgie/Teilgebiete
|
4 876
|
|
|
|
2 170
|
Orthopädie
|
1 456
|
|
|
|
3 626
|
Frauenheilkunde, Geburtshilfe
|
1 557
|
|
Innere Medizin/Teilgebiete
|
1 011
|
|
In der Statistik von Scheppokat und Neu [[4]] sind ca. 30 % der Patientenschäden fehlerverursacht und die Patientenansprüche
somit begründet. Als wesentliche Ursachen von Patientenschäden werden die hochkomplexen
operativen Eingriffe (und damit die Kompetenz des Operateurs) sowie Kommunikationsdefizite
aufgeführt. Damit sind die beiden Komplexe „Aus-, Weiter- und Fortbildung“ sowie „Struktur-
und Prozessqualität“ angesprochen, um die sich die Fachgesellschaften seit jeher bemühen.
Es ist nicht zum ersten Mal, dass sich auch die Zeitschrift für Orthopädie und Unfallchirurgie
mit der Qualitätssicherung im Fach beschäftigt [[5], [6], [7]]. In diesem Heft nun wird in der Arbeit „Risikomanagement zur Fehlervermeidung im
Krankenhaus“ nur eine der zahlreichen Einflussgrößen auf die Ergebnisqualität näher
beleuchtet. Es geht um die Kommunikation unter Ärzten, die umso mehr geschult werden
muss, je häufiger und je intensiver sie beansprucht wird [[8]]. Die ungebrochene Ökonomisierung des Gesundheitssystems, die sich daraus ergebende
Personalnot [[9]], neue Versorgungsstrukturen (z. B. fachübergreifende Dienste), Arbeitszeitgesetze
und überbordende Demokratie beeinträchtigen die Patientenversorgung nicht erst heute
[[10]]. Auf die sich daraus ergebenden Konsequenzen haben die Fachgesellschaften DGOOC
und DGU wiederholt hingewiesen. Die Autoren der o. g. Arbeit betonen daher zu Recht,
dass die organisatorischen Rahmenbedingungen, unter denen Ärzte und Pflegekräfte in
Akut-Kliniken arbeiten, bereits durch hohe Belastungsspitzen besonders fehleranfällig
sind. In solchen Situationen auftretende Kommunikationsprobleme und Missverständnisse
gehören zu den häufigsten Fehlerursachen in der Medizin. Es ist daher naheliegend,
sich Vorbilder z. B. aus der Luftfahrt zu beschaffen, die Vorgaben für eine strukturierte
Kommunikation bieten.
Die Luftfahrt hat ja auch bei der Einführung des sog. „critical incident reporting
system“ (CIRS) Pate gestanden, das in der Schweiz und nun auch in Deutschland Licht
in die vermeintlich große Dunkelziffer von „Beinahe-Unfällen“ oder Unfällen bringen
soll [[11]]. Ein derartiges System ist nachhaltig zu unterstützen, wenn es denn nicht von der
Sensationsgier der Medien instrumentalisiert und ausgehöhlt wird. Wenn denn schon
zunehmend häufiger der Vergleich zwischen Chirurg und Pilot hergestellt wird: ein
„Aktionsbündnis Fluggastsicherheit“ und ein öffentliches Bekenntnis von Pilotinnen
und Piloten zu ihren Fehlern und Beinahe-Fehlern ist bisher nicht bekannt. Dass die
Ergebnisqualität bei der Behandlung von Patienten nicht erst durch ein „critical incident
reporting system“ überprüft werden muss, ist den Gesellschaften DGOOC und DGU allgegenwärtig.
Die Orthopädie ist originär präventiv und damit auf die Vermeidung von Schäden ausgerichtet.
Qualitätssichernde Maßnahmen durch die Etablierung von Mindestmengen oder auch durch
die Einrichtung eines Endoprothesenregisters werden seit Langem gefordert. Die Unfallchirurgie
weiß, dass der Wettlauf der lebensbedrohlichen Situation eines Schwerverletzten nur
durch eine entsprechende Struktur- und Prozessqualität gewonnen werden kann. Entsprechend
hoch muss die Arbeit von Kommissionen, berufsständischen Ausschüssen und Anderen gewichtet
werden, die sich mit der Erstellung von Leitlinien bis hin zur Abfassung des „Weißbuches
Schwerverletztenversorgung“ [[12]] beschäftigt haben. Zur Verbesserung der Versorgung von Verletzten vom Unfallort
bis in die klinische Versorgung wurde nun zusätzlich das Programm „Safe : trac“ auf
den Weg gebracht.
Nicht zuletzt aber ist der Einsatz der Fachgesellschaften für Aus-, Weiter- und Fortbildung
zu würdigen, denn Beinahe-Fehler können vom kompetenten Arzt antizipiert und von vornherein
vermieden werden. So gesehen ist die Fehlerbekenntnis von Ärztinnen und Ärzten in
der Broschüre des „Aktionsbündnisses Patientensicherheit“ eine deutliche Warnung gegenüber
den Empfehlungen des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen.
Dieser hatte ja die „Arztzentriertheit“ des Gesundheitswesens kritisiert und dazu
aufgerufen, anderen ärztlichen Gesundheitsberufen mehr medizinische Verantwortung
zu übertragen. Dass die unkritische Delegation ärztlicher Leistungen auf nicht ärztliche
Berufe Kompetenz abbaut und neue Schnittstellen entstehen lässt und damit auch Risiken
heraufbeschwört, ist nach Meinung des Fachanwaltes für Medizinrecht Dr. jur. Albrecht
Wienke schon jetzt vorauszusehen [[13]].
Die Fachgesellschaften werden sich daher weiterhin intensiv um eine Qualifikation
ihres Berufsstandes in Aus-, Weiter- und Fortbildung kümmern, denn „wer etwas richtig
gelernt hat, wird es auch richtig machen“.