manuelletherapie 2008; 12(1): 39-41
DOI: 10.1055/s-2008-1027123
Kongressberichte

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Internationaler CRAFTA-Kongress an der Hamburger Universität

D. Doppelhofer
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Publication Date:
31 January 2008 (online)

Der 1. Internationale CRAFTA-Kongress fand vom 28.-29. September 2007 an der Universität Hamburg statt und war mit 275 Teilnehmern aus 10 Nationen sehr gut besucht.

In Bezug auf die zunehmende Frage in der Physiotherapie, aber auch in der Zahnmedizin nach evidenzbasierter Medizin zusammen mit dem Paradigmenwechsel zu einem multifaktoriellen, biopsychosozialen Modell wird den Klinikern immer mehr abverlangt. Sie müssen ihre biomedizinischen Kenntnisse immer auf dem aktuellsten Stand halten und auf der Grundlage der jetzigen Literatur und aktueller Forschungsergebnisse ihr klinisches Verhalten anpassen.

Um dieser täglichen Forderung gerecht zu werden, beschlossen im Jahr 2003 Dr. Harry von Piekartz von CRAFTA (Cranio Facial Therapy Academy, www.crafta.org) und Christian Westendorf vom medizinischen Veranstaltungsmanagement der FIHH Agentur Hamburg (www.fihh.de), einen entsprechenden Kongress zu organisieren. Die logische Konsequenz war das Kongressthema Kraniofaziale Dysfunktionen und Schmerzen - Interaktion zwischen Wissenschaft und Praxis.

Topspezialisten aus verschiedenen Fachrichtungen, die sowohl in der Wissenschaft als auch in der Klinik zu Hause sind, trugen zum großen Erfolg des Kongresses bei. (Sämtliche Vorträge sind auf DVD erhältlich unter: www.crafta.org).

Der Kongress wurde im altehrwürdigen Kuppelhörsaal der Hamburger Universität abgehalten und von Prof. Dr. S. Palla (Zürich) mit dem Thema Jetziger Stand der bildgebenden Techniken der kraniomandibulären Region und ihre klinischen Konsequenzen fachlich eröffnet. Prof. Palla veranschaulichte die heute sehr gute Darstellungsweise statischer und dynamischer Kondylen-Fossa-Disk-Verhältnisse bei gesunden, aber auch „abnormal” funktionierenden Kiefergelenken anhand der Computer- und Magnetresonanztomografie. Vor allem zu Diskusdeformitäten z. B. bei anterioren Diskusverlagerungen zeigte er sehr lehrreiche Bilder. Er wies aber ausdrücklich darauf hin, dass auch noch so genaue Aufnahmen nur sinnvoll und ethisch (aus gesundheitlichen als auch finanziellen Gründen) sind, wenn die bildgebenden Verfahren die Diagnosenstellung und/oder damit verbunden den Behandlungsplan deutlich beeinflussen und verändern.

Der anschließende englischsprachige Vortrag von Prof. Dr. P. van Roy (Brüssel) Left-right asymmetries and other morphological variants of craniomandibular articular surface befasste sich mit einem in der Literatur selten publizierten Thema. In einer kürzlich angelegten Studie mit je 100 Schädelbasen und Mandibulae wurden die morphologischen Variationen mittels digitaler Fotografie, makroskopischer Betrachtung, digitaler Kaliper und Goniometer auf Links-rechts-Unterschiede bezüglich Form, Größe, Raumorientierung und Degenerationsgrad verglichen. Als Resultat stellte Prof. Dr. van Roy vor, dass anatomische Varianten des lateralen Aspekts des temporalen Gelenkteils nicht nur durch Unterschiede in der Höhe der Eminentia articularis, sondern auch durch unterschiedliche Raumorientierung, Form und Dicke des Os zygomaticum und Entwicklungsgrad eines postglenoidalen Tuberkels entstehen. Er merkte zwar an, dass der mandibuläre Kondylus häufiger als die temporale Gelenkfläche Links-rechts-Unterschiede aufwies, diese jedoch eine Klassifikation der morphologischen Unterschiede in der horizontalen Ebene verlangt. Die Studie kam zu der Schlussfolgerung, dass der Zusammenhang zwischen anatomischen Asymmetrien und Kiefergelenkkinematik eine neue herausfordernde Idee sowohl für zukünftige Forschung als auch die Klinik darstellt.

Nach diesem sehr wissenschaftlichen Thema spannte Drs. C. J. van Maanen (Utrecht) mit Evidenzbasierte Medizin in der täglichen Praxis der Physiotherapie den Bogen zur Klinik. Aus dem physiotherapeutischen Alltag ist evidenzbasierte Medizin (EBM) nicht mehr wegzudenken. Auch auf dem Gebiet der therapeutischen Intervention bei kraniomandibulären Dysfunktionen gibt es wissenschaftliche Studien, die leider große Unterschiede aufweisen. In Form von Metaanalysen können sich Kliniker einen Überblick über die enorme Anzahl von Publikationen verschaffen, auch wenn diese nur eingeschränkte Aussagekraft für die praktische Anwendbarkeit der Studienergebnisse haben. Die Ursachen liegen in unterschiedlichen Studiendesigns, angewendeten Forschungsmethoden und der Interpretation der Ergebnisse. Anhand verschiedener Beispiele zeigte Drs. van Maanen, wie wissenschaftliche Ergebnisse im klinischen physiotherapeutischen Berufsalltag in Untersuchung und Behandlung zum Einsatz kommen. Mit Praxisbeispielen von Messinstrumenten bis Effekte von Kombinationstherapien erfasste der Vortrag alle wichtigen physiotherapeutischen Aspekte. Leider waren die Ausführungen durch die schlechte Akustik für einige Kongressteilnehmer nicht verständlich.

Mit Dr. Harry von Piekartz (Ootmarsum/NL) stand auch einer der Organisatoren auf dem Podium, um über Effektivität der Behandlung kraniomandibulärer Dysfunktionen (CMD) bei Patienten mit lange bestehenden Nackenbeschwerden zu referieren und seine fast abgeschlossene randomisierte kontrollierte Multicenter-Studie (RCT) zum Thema vorzustellen ([Abb. 1]). Aufgrund neuroanatomischer/physiologischer Studien und Modelle ist es möglich, dass die kraniomandibuläre Region Einfluss auf Nackenbeschwerden haben und somit auch das Ausbleiben von Beschwerdeverbesserung mit (latent) vorhandenen kraniomandibulären Dysfunktionen im Zusammenhang stehen kann. In seiner Studie stellte Dr. von Piekartz fest, wie viele Nackenpatienten unter kraniomandibuläre Dysfunktionen leiden und verglich zudem die Effekte neuromuskuloskelettaler Therapie der kraniomandibulären Region mit Manueller Therapie der Nackenregion (Kontrollgruppe). Die Ergebnisse werden demnächst veröffentlicht.

Abb. 1 Dr. Harry von Piekartz vor interessiert zuhörendem Publikum.

Mit Dr. R. Schöttl (Erfurt) war nicht nur der Präsident des International College of Craniomandibular Orthopaedics (ICCO), Sektion Deutschland, sondern auch ein ausgezeichneter Geschichtenerzähler und Vortragender vertreten ([Abb. 2]). Mit seinem Thema Neuromuskuläre Schienentherapie bei kraniomandibulären Dysfunktionen sattelte er sozusagen das Pferd von hinten auf, und der „Stellungsfehler” zog sich wie ein roter Leitfaden durch seinen Vortrag von Ruhe-Schwebe-Lage über Niederfrequenz-TENS und ballistische Bewegungen, Aquilizer bis myozentrische Bisslage und Okklusaltherapie.

Abb. 2 Dr. R. Schöttl.

Als Kongresshighlight referierte zum Abschluss des 1. Tages Prof. Dr. M. Rocabado (Santiago) Orthopaedic manual therapy in synovial temporomandibular joint disc pathology ([Abb. 3]). Sein englischer Vortrag wurde durch ausgezeichnetes Bild- und Videomaterial über orthopädische Manuelle Therapie bei Patienten mit Diskusverlagerungen mit Schmerzen, Einschränkungen und Gelenkgeräuschen untermalt. Dabei lassen sich sehr gute Ergebnisse erzielen, wobei oft schon 26 mm Mundöffnung ausreichend sind. Die Therapie verändert den Gelenkraum, was zur Verbesserung der Stabilität beitragen kann. Prof. Rocabado warnte vor allem vor Parafunktionen, weil trotz deutlich messbarer Verbesserungen der degenerative Prozess weiterlaufen kann.

Abb. 3 Prof. Dr. M. Rocabado bei einem seiner englischen Vorträge.

Frisch ausgeruht nach der Kongressparty startete am 2. Tag Prof. Dr. J. Dibbets (Marburg) mit Schädelwachstum, Okklusion und TMD - heutiger Stand ([Abb. 4]). Der Vortrag zeigte auf spannende Weise, dass sich Kiefergelenkprobleme zeitlich parallel zur Entstehung der Okklusion entwickeln können - auch als Stolperstein-Theorie bezeichnet -, wobei ein okklusaler Vorkontakt die Folge oder der Auslöser, nicht aber die Ursache von TMD ist. Dies steht im Widerspruch zur ebenfalls vorgestellten okklusalen Ergebnistheorie, die besagt, dass zuerst okklusale Störungen auftreten, die TMD auslösen. Daraus folgt, dass sich bei therapeutischer Beseitigung eines Stolpersteins die Gelenkprobleme zwar verringern, jedoch nicht geheilt sind, weil nicht die Ursache, sondern lediglich der Auslöser beseitigt wurde. Dies erklärt bislang unerklärliche Phänomene.

Abb. 4 Prof. Dr. J. Dibbets.

Prof. Dr. M. Rocabados englischer Vortrag über Painful craniocervikal and craniomandibular pathology in the child and adolescent schloss praktisch genau am Thema seines Vorredners an und zeigte viele praktische Behandlungsansätze, bei denen die Beziehungen von Kranium zu Atlas und Axis eine zentrale Rolle spielten.

Es folgte Prof. Dr. M. Hülse (Mannheim) mit seinen recht amüsanten Ausführungen über Schwindelbeschwerden und Gleichgewichtsstörungen bei der craniocervicalen Dysfunktion (CCD) und bei der craniomandibulären Dysfunktion (CMD): subjektive und objektive Befunde in der Klinik. Bei mehr als einem Drittel aller Schwindelbeschwerden liegt die Ursache nicht im Innenohr oder zentralen Nervensystem, sondern im Kopf- und Kiefergelenkbereich, die beide Verbindungen zum vestibulären Kerngebiet haben und durch eine sogenannte Afferentationsstörung subjektiv zu Trunkenheitsgefühl/Schwankschwindel und objektiv zu Zervikalnystagmus, eventuell begleitet von Zephalgien, kochleären Missempfindungen (Ohrdruck), vasomotorischer Rhinitis, Globusgefühl und Stimmstörungen führen kann. Nach Prof. Hülse ist durch die enge Verbindung zwischen Kopf- und Kiefergelenken eine Trennung der Schwindelbeschwerden in zervikale oder CMD-bedingte Störung nicht möglich. Außerdem wies er darauf hin, dass bei allen Schwindelpatienten eine HNO-Untersuchung unverzichtbar ist und diejenigen gut manualtherapeutisch behandelbar sind, deren Ursache in den Kopf- oder Kiefergelenken liegen.

Eine andere Sichtweise auf das Thema Schwindel stellte Dr. H. Biedermann (Köln) mit Manualmedizinische Behandlung von Kindern mit Gleichgewichtsstörungen und Schwindel vor. Er hält Schwindel für Diskrepanzen im Input der 3 sensorischen Strukturen Innenohr-, Auge- und Kopfgelenkpropriozeption. Bei Jugendlichen, bei denen posttraumatische oder degenerative Vorschäden selten vorkommen, ist die Ursache oft schon im Mutterbauch oder geburtsbedingt entstanden, aber auch knöcherne Missbildungen und familiäre Disposition können eine groß Rolle spielen. Daher sind vor einer manualtherapeutischen Behandlung korrekt erstellte HWS-Röntgenaufnahmen unverzichtbar. Diese Therapieform führt schnell zum Ziel, vor allem wenn sie wohl dosiert eingesetzt (Abstand 4 - 6 Wochen) und zusammen mit dem behandelnden Kinderarzt zur Stabilisierung des erreichten Behandlungserfolges ein sich aus Physiotherapie, Ergotherapie, Psychomotorik und psychosomatischer Evaluierung bis hin zu sportlichen und musikalischen Aktivitäten bestehendes Konzept erarbeitet wird.

Den Abschluss des Kongresses bildete der Vortrag von Prof. Dr. G. Sprotte (Würzburg) zum Thema Atypische Gesichtsschmerzen/kranioneuropathische Schmerzen. Die Klassifizierung dieser Schmerzsyndrome ist relativ einfach, das Erkennen zugrunde liegender Pathologien schon schwieriger und die Erstellung von Therapiekonzepten aufgrund der Klassifikationen beinahe unmöglich (Ausnahmen sind Trigeminusneuralgie und Migräne). Zudem zeigen persistierende idiopathische Gesichtsschmerzen die Tendenz, sich langfristig auszubreiten, sodass der Ausschluss ursächlicher Erkrankungen erforderlich ist, die sich in der Regel durch typische Begleitsymptome bemerkbar machen. Neurovaskuläre Kompression der Nerven in ihrem intrakraniellen Verlauf können durch Dekompression gut behandelt werden, basieren aber bis heute nur auf empirischen Ergebnissen. Prof. Sprotte unterstrich noch einmal deutlich, dass Analgetika und invasive Eingriffe nicht zu den langfristigen Konzepten gehören. In Studien werden derzeit neue Therapieansätze wie polyvalente intravenöse Immunglobuline oder in Bezug auf das Gerinnungssystem erforscht.

Abschließend kann festgestellt werden, dass dem 1. CRAFTA-Kongress vor allem aufgrund der Auswertung der Beurteilungsbögen der Kongressteilnehmer sehr gute Noten bescheinigt wurden. Alle dürfen auf den nächsten Kongress vom 2.-3. Oktober 2009 in Nürnberg gespannt sein.

Daniela Doppelhofer, PT

Stobbenkamp 10

7631CP Ootmarsum, Niederlande

Email: D.Doppelhofer@gmx.de

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