manuelletherapie 2008; 12(1): 37-38
DOI: 10.1055/s-2008-1027047
Kongressberichte

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

6. Interdisciplinary World Congress on Low Back and Pelvic Pain in Barcelona

B. Reichert1
  • 1VPT Akademie Fellbach
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Publication Date:
31 January 2008 (online)

Der World Congress fand vom 7.-10. November 2007 in Barcelona statt. Mit ca. 1200 Teilnehmern aus 66 verschiedenen Ländern wurde der „World”-Aspekt deutlich. Die Besucher hatten an 4 Tagen die Gelegenheit, über 80 kürzere und längere Vorträge im schlichten, aber großen Palau de Congressos de Catalunya zu besuchen.

Eingerahmt wurde das interessante und anstrengende Programm durch eine Präsentation mit ca. 120 Postern, einem Kongressdinner, mehreren Workshops und einer Führung durch das Camp Nou, dem gewaltigen Heimstadion des FC Barcelona.

Dem wissenschaftlichen und programmatischen Komitee um Prof. Andry Vleeming, Spine and Joint Centre Rotterdam, ist es gelungen, mit einer großen Zahl teils namhafter und internationaler Referenten eine umfassende Darstellung der heutigen klinischen und wissenschaftlichen Diskussion um den zentralen Anteil des Bewegungsapparats anzubieten. Inhaltlich war das Programm in mehrere thematische Blöcke unterteilt:

Klinische Anatomie und Biomechanik; Forschung der medizinische Grundversorgung; Myofasziale Triggerpunkte; Beckenringbeschwerden; Beckenbodenmuskulatur; Motorische Kontrolle; Schmerzentren und -management; Effektives Management von lumbalen und Beckenschmerzen; Physiotherapeutische und chirurgische Behandlung.

Dieses variable Programm ermöglichte nicht nur Physiotherapeuten sondern, auch Ärzten und Sportwissenschaftlern einen Zugang. Leider mussten wir feststellen, dass die deutsche Fraktion schätzungsweise aus lediglich 20 Teilnehmern bestand - erstaunlich wenig! „Wir” waren eine kleine Gruppe von mit dem Thieme Verlag verbundenen Physiotherapeuten aus dem süddeutschen Raum ([Abb. 1]).

Abb. 1 Bernhard Reichert, Sebastian Klien, Volker Sutor, Frank Diemer, Claus Beyerlein, Andreas Hofacker (v. l. n. r.)

Inhaltlich war mir der prinzipielle Ansatz von Prof. Vleeming durch einige Begegnungen und Kurse in funktioneller Anatomie sowie dem Besuch des Spine and Joint Centre bekannt. Nach seiner Auffassung handelt es sich bei der lumbopelvinären Region um das Kerngebiet des Skeletts, das für Last- und Kräftemanagement maßgeblich und in die Kinematik zwischen unteren Extremitäten und Wirbelsäule eingebunden ist. Sein Beitrag zum Verständnis der Stabilität der LWS und des Beckens wird durch zahlreiche Veröffentlichungen z. B. über die Fascia thoracolumbalis und das dorsale sakroiliakale Ligament dokumentiert. Diese Sichtweise untermauerte eine Rednergruppe der Universitäten aus Tel Aviv und Haifa durch einige anatomische und biomechanische Vorträge. So zeigte uns Gali Dar die normale Entwicklung des Sakroiliakalgelenks (SIG) mit ventralen ossären Brückenbildungen auf und warnte: „[…] with direct pressure (on the sacrum) we can fracture the bridge.” Eine mögliche Folge wären Gelenkentzündungen und neurale Reizungen.

Ein weiterer wichtiger Aspekt bei der Betrachtung der Region ist die funktionelle Untrennbarkeit von Beckenringgelenken (einschließlich Symphyse), Beckenbodenmuskulatur, M. multifidus lumbalis und Faszia thoracolumbalis, Bauchwandmuskulatur (z. B. M. transversus abdominis) und Thorax.

Mobilität und Stabilität des SIG, Aufgabe der Faszia und des M. multifidus waren mir schon aus früheren Publikationen bekannt. Hier kam die besondere Bedeutung der Beckenbodenmuskeln und des Thorax für diese Region hinzu. Letzteres stellte in sehr professioneller Weise eine Referentengruppe wissenschaftlich arbeitender Physiotherapeuten um Diane Lee (Kanada) dar. Sowohl die palpatorische Diagnostik als auch die Untersuchung der Beckenbodenmuskulatur mit Ultraschall seitens Physiotherapeuten wird ernsthaft erforscht.

Eine durch Paul Hodges vorgestellte Arbeit von Michelle Smith verdeutlichte die Dreiecksbeziehung zwischen Rückenschmerzen, Inkontinenz und respiratorischen Problemen. Bei dieser Referentengruppe kam stark der vom Kongress vorgegebene Anspruch zum Ausdruck. Mit dem Untertitel Diagnosis and Treatment; the Balance between Research and Clinic versuchte das Programmkomitee, die Verbindung zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und der praktischen Arbeit am Patienten herzustellen. Wie bei vielen anderen Rednern rückte das Clinical Reasoning als Leitfaden im diagnostischen und therapeutischen Ansatz in den Vordergrund. Nicht nur die externe Evidenz aus der wissenschaftlichen Literatur, sondern auch die klinische Expertise, das bewusste Reflektieren und Einsetzen der persönlichen Erfahrungen als Therapeut sind für die Behandlung am Patienten wichtig. Der vom Kongress geleistete Beitrag bestand darin, den Teilnehmern eine erstaunliche Fülle an wissenschaftlich erarbeiteten Erkenntnissen und das Intergieren in den Behandlungsansatz mitzugeben.

Im Trainingsbereich der lumbopelvinären Region gab es für gut informierte Kollegen keine besonderen Überraschungen. Bei der Beurteilung der Exercise therapy beklagten die Reviewer, wie z. B. van Tulder von der Cochrane Collaboration, immer noch die unzureichende Qualität der wissenschaftlichen Forschung. Es gibt immer noch keinen eindeutigen Beweis für den Stellenwert von Übungen.

Simo Taimela beschrieb die fehlende Vergleichbarkeit der verschiedenen untersuchten Übungsansätze sowie die Tatsache, dass meistens die Wirksamkeit, aber nicht Kosteneffektivität und Wichtigkeit von Übungen untersucht wurden. Der aktuelle Stand ist „Slight effectivity on decreasing pain and increasing function”. Es wird empfohlen, Übungen individuell anzupassen, zu überwachen, hoch zu dosieren und mit „Additional conservative care” zu verbinden.

Bei den weniger zentralen Kongressthemen fiel mir besonders der Beitrag von Hanne Albert aus Dänemark auf, die das Thema Modic changes als mögliche Ursache für chronische Rückenschmerzen erläuterte. Bei Modic changes handelt es sich um Aufhellungen im MRI ober- und unterhalb einer erkrankten Bandscheibe. Seit Stirling [3] ist bekannt, dass 53 % des prolabierten Nukleusmaterials mit leicht virulenten anaeroben Bakterien infiziert sind. Nach der derzeitigen Theorie sind es Deckplatteneinbrüche, die zur Makrophagenaktivität führen. Über diesen Weg werden Bakterien eingeschleppt, die eine Entzündung verursachen. Den Zusammenhang zu Rückenschmerzen haben bereits einige Autoren aufgezeigt [1] [2].

Für mich persönlich war der Kongress eine echte Bereicherung. Es machte viel Freude, den Diskussionen zu den Beiträgen zu folgen, mit Kollegen aus dem näheren und fernen Ausland zu diskutieren und das Ohr am internationalen Prozess physiotherapeutischer Forschung zu haben. Gerne erinnere ich mich an eine Begegnung mit iranischen Kollegen, die eine Posterpräsentation im Ausstellungsraum hatten. Hierbei ging es um eine Gleichwertigkeitsstudie zwischen Palpations- und Ultraschalldiagnostik der Beckenbodenmuskulatur, durch die sie die Gleichwertigkeit nachweisen konnten. Mit einem Schmunzeln erinnere ich mich an unsere Diskussion, wie sie ihre „Stichprobe” für die Palpationsdiagnostik rekrutierten.

Es machte außerordentlich Spaß, wirklich souveränen und fachlich extrem guten Rednern zuzuhören, wie z. B. Lorimer Moseley, Paul Hodges, Paul Watson und Peter O’Sullivan. Ohne deren Rednerqualität hätte es dem Kongress an Charme und Stellenwert gemangelt. Allerdings sind die Zugangsbedingungen zu solchen Veranstaltungen mit knapp 700 € stark selektierend. Lohnend ist ein derartiger Kongress für interessierte und vorinfomierte Kollegen, die sich an 4 Tagen ca. 60 Vorträge über Wissenschaft und Therapie in englischer Sprache anhören möchten und bereit sind, sich Zeit zum Nacharbeiten und Transfer in die Lehre, eigene Forschung oder Praxis zu nehmen.

Neben allen menschlichen und technischen Schwächen, die eine derartige Großveranstaltung auch aufweist, kann man sich glücklich schätzen, dabei gewesen zu sein, denn wann findet schon einmal ein Weltkongress in Europa statt? Alle vorangegangenen Weltkongresse von Prof. Vleeming waren außereuropäisch und der kommende ist in 3 Jahren in San Diego (USA). Soviel ist klar: Das physiotherapeutisch wissenschaftliche Herz pocht nicht in Europa. Daher bin ich bei einer erneuten Teilnahmegelegenheit jederzeit gerne wieder dabei.

Literatur

  • 1 Albert H B, Manniche C. Modic changes following lumbar disc herniation.  Eur Spine J. 2007;  16 977-982
  • 2 Coscia M F, Wack M, Denys G. Low virulence bacterial infections of intervertebral discs and the resultant spinal disease processes.  Abstract SRS Annual Meeting 2003. www.spineuniverse.com/displayarticle.php/article 2838.html (2008). ; 
  • 3 Stirling A, Worthington T, Rafiq M. et al . Association between sciatica and Propionibacterium acnes.  Lancet. 2001;  357 2024-2025

Bernhard Reichert, MT PT cand. BSC Phys DIU

VPT Akademie Fellbach

Email: b.reichert@online.de

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