Balint Journal 2008; 9(2): 66-67
DOI: 10.1055/s-2008-1004731
Leserbrief

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Leserbrief zu: W. Schüffel, S. Stunder: Verändert sich die Arzt-Patienten-Beziehung beim Hausbesuch? Das Element der Zeitlichkeit: Brägele und Maultaschen Balint 2007; 8: 44-53

H. Langer
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Publication Date:
20 June 2008 (online)

Der Artikel hat mein Interesse geweckt und zugleich in mir ein unbehagliches Gefühl hinterlassen.

Ich vermute das Bemühen der Autoren, die Bedeutung der psychosozialen Dimension des Hausbesuchs, das Erkennen von Psychodynamik in Zweier- und Dreier-Konstellation der Arzt-Patient-Begegnung, das Erleben und Erfahren der familiensystemisch wirksamen Faktoren „irgendwie” mit der Notwendigkeit aktueller Qualitäts- und Effektivitätsbeweise in der Hausärztlichen Versorgung in Verbindung bringen zu wollen.

Die Verbindung zum Projekt „Gesundes Kinzigtal” hat sich mir über die geschilderten drei Hausbesuche kaum erschlossen.

„Tiefenschärfe” hat meiner Erfahrung nach nicht immer und unbedingt mit dem Faktor Zeit zu tun, mehr noch mit einem „Training der Gefühle”, auch wenn ich in meiner psychoanalytischen Arbeit den Faktor Zeit, um die therapeutische Beziehung und Übertragungs-Gegenübertragungsgefühle gedeihen und entfalten zu lassen, zu schätzen weiß.

Die Realität der allgemeinmedizinischen Hausbesuche hat eine andere Zeitdimension, als es die psychotherapeutische Beziehung im Couch-Setting ermöglicht.

Die „Fünf Minuten pro Patient” von Balint beinhalten meines Wissens eben das Training der Kollegen im Erfassen und Reflektieren der Hausbesuchs - Situation und glücklicherweise haben sie dann (und das höre ich häufig von den jüngeren Kollegen) ihr Team in der Praxis, mit dem sie sich im Einzelfalle auch Zeit für die Reflexion einer Arzt-(Schwester-)Patienten-, -Familien-Begegnung nehmen können.

Und dann haben sie noch die Balintgruppe. Da ist es immer wieder frappierend, was an „Breite” und „Tiefe” auch in der kurzen Begegnung wahrgenommen und erspürt wird, wenn man denn darin ein bissel trainiert ist.

Die üppigen Assoziationen und Fantasien der beiden Ärzte ließen in mir die Frage entstehen, inwieweit es bei diesen drei Besuchen wirklich um den Patienten in seiner Ganzheitlichkeit und das Verständnis der Arzt-Patient-Beziehung geht oder stark um die Bedürfnisse der Ärzte.

Georg Groddeck als einer der Gründungsväter der psychosomatischen Medizin wird zu Hilfe geholt. Groddeck, der neben bedeutsamen Schriften zum Unbewussten in seiner Begeisterung für sein „ES” auch zu einem unkritischen symbolhaften Deuten neigte. Insbesondere sexualpsychologisch ging wohl die Fantasie mit ihm durch, was ihm auch reichlich Ablehnung bescherte (u. a. in der Frauenbewegung der 20er-Jahre, aber auch in der Gilde der Psychoanalytiker, die zunächst seine Schriften begeistert angenommen hatten).

Groddeck jedoch, der die psychische Bedingtheit von Krankheiten immer stark strapazierte bis zur Ausschließlichkeit der psychischen bzw. triebhaften Bedingtheit von Krankheiten schrieb 1922 (56-jährig) an Sandor Ferenczi:

„Dass wir unsere eigenen Komplexe in wissenschaftliche Entdeckungen projizieren, versteht sich von selbst. Wie sollten wir sonst auch nur das Geringste entdecken?”

In diesem Sinne Groddeck's verstehe ich das Ansinnen der Autoren besser.

Auch an die Vertreter der deutschen Romantik (z. B. der Arzt und Maler Carl Gustav Carus) erinnern die Schilderungen aus dem Schwarzwald. Es war der Versuch, ein Gegengewicht zu den psychosozialen Folgen des Tempos der Industrialisierung zu finden. Angesichts des immer rascher voranschreitenden Lebenstempos ist der Wunsch des Hausarztes und des Besuchsarztes nach Entschleunigung gut zu verstehen und nachzuvollziehen.

Den Assoziationen zu Hieronymus Bosch kann ich wohl deshalb nicht folgen, weil mir der optische Eindruck des älteren Paares weniger klar als den beiden Kollegen vor Augen treten konnte. Ich habe da einen älteren, dyspnoischen Mann spüren können, der den einen ärztlichen Kollegen an seiner Trauer und den nahenden Abschied vom Leben und an seinem Gottvertrauen teilhaben lässt.

Beim erwähnten Grußwort des Montrealer Instituts blieb ich noch hängen.

Es hat zwei Aspekte: Originalität und Scharfblick. Originalität allein scheint mir bei fantasiegetrübtem Blick wenig hilfreich für Arzt und Patient.

Unter den „Bedingungen ihres natürlichen Rhythmus in der Zusammenarbeit” von Arzt und Patient müssten auch die Frustrationen des Settings und der Regeln eines Hausbesuches im KV-Dienst berücksichtigt und reflektiert werden - das fehlt mir in der Betrachtung. Werden z. B. die durchaus üblichen Versorgungsangebote von Patienten in Hausbesuchen, besonders im ländlichen Bereich reflektiert?

Sich über das „Element der Zeit” auszutauschen kann eine Entwicklungsaufgabe in der Arzt-Patient-Beziehung unter Berücksichtigung der lebenszeitlichen und der besuchszeitlichen Begrenzung beider Beteiligten im Hausbesuch bedeuten.

Der Umgang mit Traumata in der Lebensgeschichte des Patienten (und ggf. des Arztes) ist ein sensibles und dankenswerterweise aufgegriffenes Thema. Da haben wir in der Aufarbeitung der Zeitgeschichte jüngeren und älteren Datums im Schwarzwald und in der Sächsischen Schweiz viel zu tun, wobei gerade da manche Groddeck'sche Sichtweise in ihrer verführerischen fantasievollen Dimension die Gefahr von Re-Traumatisierungen in der Arzt-Patient-Beziehung bergen könnte.

Aber da haben die beiden Ärzte im Balint'schen Sinne frech gedacht und vorsichtig gehandelt und es uns Leser nur wissen lassen.

Vielen Dank für den Artikel, der bei Balintgruppen-geübten Hausärzten zu Diskussionen anregte.

Literatur

  • 1 Rattner J. Klassiker der Psychoanalyse. Beltz 1995
  • 2 Uexküll T von. Psychosomatische Medizin. Urban & Schwarzenberg 1998

Dr. med. H. Langer

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