Notfall & Hausarztmedizin 2007; 33(8/09): 442-443
DOI: 10.1055/s-2007-990768
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© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Orientierung an international festgelegten gastrointestinalen Risikofaktoren - Entscheidend: wann werden NSAR und wann Coxibe verordnet?

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Publication Date:
01 October 2007 (online)

 
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Wie PD Dr. Michael Überall aus Nürnberg auf einem Symposium während des Deutschen Schmerztages [1] 2007 berichtete, erhielt jeder Versicherte der Gesetzlichen Krankenversicherung im Jahr 2005 im Mittel 13,8 definierte Tagesdosen (DDD) entzündungshemmende Analgetika. Davon seien NSAR mit 95% am häufigsten verordnet worden, so Überall. Da im gleichen Zeitraum 13,1 definierte Tagesdosen (DDD) der Präparate zur Behandlung säurebedingter Erkrankungen verschrieben worden seien, liege der Zusammenhang nahe, dass die gastrointestinalen Nebenwirkungen der NSAR durch Gabe weiterer Medikamente kompensiert werden, folgerte Überall.

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Substanzbezogene Risiken gastrointestinaler Blutungen

Von den derzeit verordneten NSAR wurde Naproxen zum neuen Goldstandard erklärt, "obwohl es bezüglich seiner Schleimhautschädigungen in der Kurzzeittherapie nur im Mittelfeld der NSAR liegt", kritisierte Überall (Abb. [1]). Als problematisch sieht er, dass es sich bei allen NSAR um Säuren handelt, die den Magen-Darm-Trakt, Leber, Nieren und Herz-Kreislauf-System belasten. "Mit der Einführung von Cox-2-Hemmern konnten zumindest die gastrointestinalen Nebenwirkungen reduziert werden", zeigte Überall. So ergab eine Untersuchung über drei Monate, dass Celecoxib in verschiedenen Dosierungen (50 mg, 100 mg, 200 mg und 400 mg zweimal täglich) hochsignifikant weniger gastroduodenale Schleimhautulzerationen verursachte als Naproxen (2 x 500 mg/d) [3]. 2005 untersuchte eine Metaanalyse die substanzbezogenen Risiken gastrointestinaler Blutungen unter verschiedenen NSAR und Cox-2-Hemmern [4]. Dabei zeigte Naproxen ein 7-8-fach höheres Risiko für gastrointestinale Blutungen im Vergleich zu den Cox-2-Inhibitoren Celecoxib und Rofecoxib.

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Abb. 1 Substanzbezogene Risiken gastrointestinaler Blutungen unter NSAR [2]

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Abb. 2 Peritonitis: Perforation des Magen-Darmtraktes durch NSAR

Eine frühe wirtschaftliche Analyse nach den britischen National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE)-Kriterien ergab, dass Patienten mit folgenden Kriterien trotz des höheren Kostenanteils mit Cox-2-Hemmern behandelt werden sollten:

  • Patienten ab 65 Jahre

  • Gastroduodenale Ulzera oder Blutungen in der Anamnese

  • Gleichzeitige Einnahme von Medikamenten, die die Entwicklung gastrointestinaler Probleme erhöhen könnten

  • Patienten mit ernsthaften Begleiterkrankungen (z. B. kardiovaskuläre Erkrankungen, Nieren- oder Leberfunktionsstörungen, Diabetes mellitus oder arterieller Hypertonie)

  • Patienten, die über einen längeren Zeitraum konventionelle NSAR in einer Höchstdosis benötigen.

Begründet wurde dies dadurch, dass die Folgekosten durch Nebenwirkungen von NSAR "so eklatant höher sind, sodass es wirtschaftlich unsinnig wäre, Patienten diesem Risiko auszusetzen", erklärte Überall. Eine Studie in den neuen Bundesländern untersuchte, wie oft Patienten mit medikamentösen Nebenwirkungen ins Krankenhaus kommen. "Dabei waren Nebenwirkungen im Verdauungstrakt mit fast 39% der häufigste Grund", zeigte Überall. Verantwortlich für diese Nebenwirkungen waren hauptsächlich Entzündungshemmer - dabei seien die frei verkäuflichen NSAR nicht berücksichtigt, betonte Überall.

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Obduktionen weisen Substanz und gastroduodenale Ulzera nach

Auch Prof. Dr. med. Michael Tsokos aus Berlin kennt die Todesursache aufgrund gastrointestinaler Blutungen aus rechtsmedizinischen Obduktionsstatistiken. "Wir können mithilfe chemisch-toxikologischer Untersuchungen die Substanz und ihren Wirkstoffspiegel nachweisen", erklärte er. Die Prävalenz in Obduktionen liegt bei 1-3%. Dabei sind Ulzera und in der Folge Blutungen sowie hämorrhagischer Schock die häufigsten Komplikationen. Im Jahr 2001 untersuchte er, ob NSAR postmortal nachweisbar sind, beziehungsweise ob es eine Assoziation von todesursächlichen Komplikationen gastroduodenaler Ulzera mit der Einnahme von NSAR gibt. Dazu wurden prospektiv alle Obduktionen (1 139 Fälle) innerhalb von zwölf Monaten bezüglich tödlicher Ulcuskomplikationen untersucht. Es fanden sich zwölf Fälle, die den Kriterien entsprachen. Davon konnten in sieben Fällen NSAR nachgewiesen werden, andere Substanzen wie ASS, Kortikoide oder orale Antikoagulanzien, konnten ausgeschlossen werden. Somit war ein Zusammenhang mit der Einnahme von NSAR anzunehmen. "Schaut man in die Literatur, sollen in mehr als 65% der Fälle NSAR ursächlich für eine Ulcuspathogenese sein", betonte Tsokos. Daraus schließt er, dass ein nicht ausreichend gewürdigtes Risiko zwischen NSAR und schweren, letal verlaufenden gastrointestinalen Nebenwirkungen besteht - auch bei Patienten unter 60 Jahren. Vermutlich besteht zusätzlich eine hohe Dunkelziffer von Fällen, die in der Todesstatistik nicht erfasst werden.

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NSAR plus PPI schützen nur den oberen Gastrointestinaltrakt

"Problematisch bei gastrointestinalen Läsionen ist, dass die Patienten uns keine Alarmzeichen senden, denn sie spüren nichts", warnte Prof. Rainer Wigand aus Frankfurt a. M. 1997 starben in den USA 16 500 Menschen nur durch gastrointestinale Schädigungen aufgrund von NSAR, in Deutschland sterben zirka 2 200 Patienten jährlich durch NSAR-induzierte gastrointestinale Komplikationen [5], und das, so Wigand, "obwohl wir jährlich rund 200 Millionen Euro dafür aufwenden, diese Komplikationen zu therapieren oder zu verhindern." Hinzu kommen enorme Kosten durch Arbeitsausfälle. "Das interessiert aber keinen, da wir ein sektorales Gesundheitssystem haben", bemängelte er. In England beispielsweise erfolgt aufgrund der NICE-Kriterien eine andere Berechnung. Hier wird beurteilt, wie viel der Patient insgesamt kostet, unabhängig davon, in welchem Bereich die Kosten anfallen.

So empfiehlt die KV Hessen, NSAR gemeinsam mit Protonenpumpenhemmern (PPI) zu verordnen, um Ulzerationen effektiver zu verhindern. Teure Coxibe seien zu vermeiden. "Das ist falsch", sagte Wigand, und auch Überall argumentierte, dass selektive Protonenpumpenhemmer nur den oberen Gastrointestinaltrakt schützen. Die Nebenwirkungen seien aber auch im unteren Bereich relevant. Bereits 2005 zeigten Untersuchungen, dass Naproxen unter dem Schutz des Protonenpumpenhemmers Omeprazol vielfach häufiger Schleimhautläsionen verursachte, als ein Cox-2-Inhibitor.

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"We are still confused, but on a higher level"

Bei Arthrose und rheumatischen Erkrankungen haben sich laut Wigand alle Coxibe in ihrer Wirksamkeit äquipotent zu NSAR erwiesen. Ein Rückblick auf Studien zu Coxiben zeigt folgendes: die VIGOR-Studie mit Rofecoxib ergab, dass ein kardiovaskuläres Problem bestehen könnte. In der CLASS-Studie mit Celecoxib in der doppelten Dosis (800 mg/Tag) konnten keine kardiovaskulären Risiken gefunden werden. Die APPROVe-Studie mit Rofecoxib in erhöhter Dosierung sollte das Auftreten maligner Folgeerkrankungen untersuchen. "Sie war letztendlich der Todesstoß für Rofecoxib, da hier die VIGOR-Daten bestätigt worden sind", fasste Wigand zusammen. Bei der APC-Studie zeigte sich unter erhöhter Dosierung von Celecoxib ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko. Dagegen bestand in der PreSAP-Studie gegen Placebo kein erhöhtes Risiko. In der ADAPT-Studie zeigte sich ein erhöhtes Risiko für Naproxen gegen Placebo, nicht aber für Celecoxib gegen Placebo. "Das Problem dabei ist, dass immer gegen Placebo getestet wurde", betonte Wigand, ein kardiovaskuläres Risiko bestehe auch bei klassischen NSAR, dazu gebe es aber keine Studien. "Aber nur weil wir keine Evidenz haben heißt das nicht, dass keine Risiken bestehen", folgerte er. Die MEDAL-Studie, die Etoricoxib gegen Diclofenac bei Rheumapatienten testete, lieferte erstmals "harte Daten": Beide Substanzen ergaben ein identisches, leicht erhöhtes kardiovaskuläres Risiko.

Laut Wigand wissen wir heute folgendes:

  • NSAR und Coxibe sind gleich wirksam

  • Coxibe sind gastrointestinal signifikant verträglicher als NSAR

  • Die momentane Datenlage besagt, dass keine Unterschiede zwischen Coxiben und NSAR bezüglich ihrer kardiovaskulären Toxizität bestehen.

"Ansonsten ist nichts anderes belegt, alles andere ist Politik", folgerte Wigand.

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Abb. 3 Häuftigkeit schwerer gastrointestinaler Schleimhautschädigungen im Alltag [6]

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Vorgehen in der täglichen Praxis

Für das Vorgehen in der täglichen Praxis empfiehlt Wigand folgendes: Hat der Patient Schmerzen, muss geklärt werden, um welche Art von Schmerz es sich handelt. Liegt ein Prostaglandin-vermittelter Entzündungsschmerz vor, ist ein antiphlogistisches Analgetikum indiziert. Die Entscheidung, ob ein NSAR oder ein Coxib verordnet wird, orientiert sich an international festgelegten gastrointestinalen Risikofaktoren. Ist der Patient in fortgeschrittenem Alter, besteht eine Ulcusanamnese, eine schwere Allgemeinkrankheit, die Einnahme von Steroiden oder Antikoagulanzien sowie selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, ist ein Coxib zu wählen. Bestehen keine gastrointestinalen Risikofaktoren, sind NSAR oder ein Coxib indiziert.

Um die Tagestherapiekosten von Coxiben und NSAR zu vergleichen rechnete Wigand folgendermaßen: Diclofenac und Omeprazol als Magenschutz kosten zusammengerechnet als Generika 1,25 Euro pro Tag. Celecoxib kostet täglich 1,30 Euro, Etoricoxib zirka 1,53 Euro pro Tag. "Worüber wir uns unterhalten sind 5 Cent höhere Tagestherapiekosten", rechnete Wigand, "damit schützen wir den Darm gleich mit, den wir mit PPI nicht erreichen."

"Medikamente benötigen also eine gewisse Intelligenz in der Anwendung", proklamierte Überall, "einen differenzierten Zugang, ein Abwägen und ein individuelles Anpassen. Dabei sei Naproxen in einigen Fällen durchaus richtig. Für ein differenziertes Vorgehen ist aber das gesamte Spektrum wichtig, dazu gehören auch die Cox-2-Hemmer, betonte er.

ts

Mit freundlicher Unterstützung der Pfizer Pharma GmbH, Karlsruhe

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Quellen:

  • 01 Symposium "Update NSAR & Coxibe: Fakten versus Fiktionen" im Rahmen des Deutschen Schmerztags 2007 in Frankfurt. 
  • 02 Lanas A . et al . Digestive Disease Week (DDG), 2005. 
  • 03 Pharmacia, Data on file. 
  • 04 Lanas A . et al . Aliment Pharmacol Ther 2005; 21 Suppl 1: 2-4, 21-4. 
  • 05 Bolten W . et al . Akt Rheumatol. 1999;  24 127-134
  • 06 Mamdani M . et al . BMJ. 2002;  325 (7365) 624
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Quellen:

  • 01 Symposium "Update NSAR & Coxibe: Fakten versus Fiktionen" im Rahmen des Deutschen Schmerztags 2007 in Frankfurt. 
  • 02 Lanas A . et al . Digestive Disease Week (DDG), 2005. 
  • 03 Pharmacia, Data on file. 
  • 04 Lanas A . et al . Aliment Pharmacol Ther 2005; 21 Suppl 1: 2-4, 21-4. 
  • 05 Bolten W . et al . Akt Rheumatol. 1999;  24 127-134
  • 06 Mamdani M . et al . BMJ. 2002;  325 (7365) 624
 
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Abb. 1 Substanzbezogene Risiken gastrointestinaler Blutungen unter NSAR [2]

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Abb. 2 Peritonitis: Perforation des Magen-Darmtraktes durch NSAR

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Abb. 3 Häuftigkeit schwerer gastrointestinaler Schleimhautschädigungen im Alltag [6]