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DOI: 10.1055/s-2007-985048
© Hippokrates Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG
Wissen statt glauben
Publication History
Publication Date:
09 July 2007 (online)

Liebe Leserinnen,
lassen Sie sich von mir mitnehmen auf eine kurze gedankliche Zeitreise. Wir schreiben das Jahr 1987. Ein Jahr zuvor, im April 1986, kam es zu einem schrecklichen weltumfassenden Ereignis, zur Kernreaktorenkatastrophe in Tschernobyl. Viele Menschen überlegten sich in dieser Zeit, ob es überhaupt noch zu verantworten sei, Kinder in diese Welt zu setzen.
Diejenigen, die es trotzdem wagten, wollten, dass alles so natürlich wie möglich vonstatten geht. Dies hatte Auswirkungen auf die Hebammenarbeit. Die Kreißsäle konkurrierten um möglichst niedrige Sectioraten, alternative Gebärpositionen waren stark im Kommen und das Stillen war ein absolutes Muss. Milchpulver galt als potenziell verseucht, somit war die Muttermilchersatznahrung in Verruf gekommen. Erinnern Sie sich?
Heute, im Jahr 2007, hat sich die Hebammenarbeit in einigen Bereichen komplett gewandelt. So ist die Wunschsectio zu einer ernst zu nehmenden Geburtsalternative geworden. Die Pränataldiagnostik ist in Verbindung mit der Gentechnik stark im Vormarsch. Das Stillen wird für sinnvoll erachtet, es wird aber - das belegen Forschungen immer wieder - bei den ersten auftretenden Schwierigkeiten schnell aufgegeben. Diese Entwicklungen sehen viele Hebammen mit Sorge.
Damals 1987 glaubten die Menschen an die Natur. Je ursprünglicher Prozesse abliefen, desto besser war dies für ihre Kinder. Heute hingegen scheinen die Menschen der Technik mehr zu vertrauen als der Natur. Alles, was technisch machbar ist, soll helfen, für das Kind die besten Ausgangsbedingungen zu schaffen.
Dass Wissen - nicht Glaube - an ein ausgesuchtes Fachpublikum herangetragen wird, war und ist ein großes Anliegen unserer Zeitschrift. Ein schönes Beispiel dafür, dass Überlieferungen nicht immer stimmen, zeigt uns der Kinderarzt Stephan Illing bei der Beantwortung der Praxisfrage: Hilft oder schadet Muttermilch bei Augenentzündungen des Neugeborenen? - in diesem Heft.
Der Schwerpunkt dieser Ausgabe ist die Hebammenforschung. Sie hat sich innerhalb der letzten 20 Jahre langsam, aber stetig entwickelt. Einen guten Überblick über die aktuellen Forschungsprojekte liefern regelmäßig die Forschungs-Workshops für Hebammen, die jeden Herbst in Fulda stattfinden (s. auch S. 143). Die meisten Beiträge in diesem Heft stammen vom 17. Forschungsworkshop 2006. Einige Arbeiten untersuchen gezielt die Wirksamkeit oder Unwirksamkeit von Maßnahmen, z.B. von Nahrungsergänzungsmitteln und Untersuchungsmethoden.
Trotz der unübersehbaren Fortschritte steckt die Hebammenforschung in Deutschland aber immer noch in den Kinderschuhen. Hieran gilt es weiterzuarbeiten, damit Hebammen nicht nur den unterschiedlichen gesellschaftlichen Strömungen Rechnung tragen, sondern auch einen Beitrag zur Weiterentwicklung ihrer Arbeit und ihrer Arbeitspotenziale leisten. Damit sie weiter wie gewohnt - nur dieses Mal mit wissenschaftlichem Background - auch gegen den Strom schwimmen, auf Missstände aufmerksam machen und für die Erhaltung der Humanität im Geburtsgeschehen und in der Vor- und Nachsorge einstehen.
Daraus ergibt sich die Konsequenz, dass wissenschaftliche Erkenntnisse nicht nur in die Arbeit der Hebammen, sondern auch in die Grundausbildung Einzug halten müssen. Das heißt, Hebammenforschung muss als Unterrichtsfach an allen Hebammenschulen eingeführt werden, damit die zukünftigen Hebammen lernen, sich mit Forschungsergebnissen auch kritisch auseinanderzusetzen, um in ihrem späteren Berufsleben nicht nur überliefertem Wissen zu glauben, sondern zu wissen, was derzeit Stand der Dinge ist. Ich bin gespannt auf die nächsten 20 Jahre ...
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viel Freude und Anregung beim Lesen.