Balint Journal 2007; 8(3): 97-98
DOI: 10.1055/s-2007-981293
Original

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Das Phänomen der Pseudoidentifikation in der Balintgruppe

The Phenomenon of Pseudoidentification in a BalintgroupJ. Beckmann1
  • 1Psychosomatische Abteilung, Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke
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Publication Date:
26 October 2007 (online)

Wie allgemein bekannt ist, beschäftigt sich die Balintarbeit mit der Beziehung zwischen Therapeut und Klient. Gefühle, die bei Mitgliedern einer Balintgruppe auftreten, sind in der Regel als mögliche oder tatsächliche Gefühle des Therapeuten oder des Klienten zu verstehen, die sich mit Anteilen der eigenen emotionalen Erlebniswelt des jeweiligen Mitgliedes vermischen. Im Idealfall wird der persönliche Anteil abgefiltert, sodass der vorgetragene Inhalt mit zunehmend höherer Wahrscheinlichkeit den Gefühlen der Protagonisten entspricht. Diesem Fall nähert man sich mit zunehmender Selbst- und Balintgruppenerfahrung der einzelnen Mitglieder an. Die berichteten Gefühle können dann vom Leiter, anderen Teilnehmern der Gruppe oder dem Vortragenden selbst zugeordnet werden, sodass die therapeutische Beziehung erhellt wird. Der Referent erkennt dann meist das Wesentliche der Beziehungsproblematik und kann Schritte zur Umgestaltung der Beziehung unternehmen.

Die Motivation zur Identifikation in der Balintgruppe ist selbstverständlich nicht im Sinne einer Abwehr, sondern hauptsächlich im Sinne der sozialen Kontaktaufnahme, also als Anschlussmotiv nach Murray zu verstehen:

„To form friendship and association. To greet, join and live with others. To co-operate and converse sociably with others. To love. To join groups” [4].

Der Anschlusssuchende muss einen gewissen Gleichklang im Erleben (Identifikation) herstellen, der beide Seiten zur Interaktion anregt und somit im Ergebnis den Wert der eigenen Person bestätigend, also als lohnend erlebt wird [2].

Schon beim Rollenspiel des Kindes zeigt sich, wie das Kind die beobachteten Verhaltensweisen der Erwachsenen nachahmt und sich in der Fantasie mit dem realen Träger dieser Rolle gleichsetzt. Dies ist ein wichtiger Weg zur Sozialisation und zum (identifikatorischen) Verstehen des anderen. Dieser normalen und lebenswichtigen Bedeutung des Identifikationsvorgangs steht diejenige gegenüber, bei der Identifikation überwiegend unter starkem Konfliktdruck und zur Abwehr verwendet werden [1].

Ein sehr interessantes und gar nicht so seltenes Phänomen in der Balintarbeit ist eine scheinbare Identifikation eines Gruppenteilnehmers mit einem der Protagonisten (z. B. dem Patienten), die aber emotional in Wirklichkeit einer Identifikation mit dem anderen Protagonisten entspricht (in diesem Fall dem Therapeuten) und durch einen Wechsel der Rollenidentifikation hervorgerufen wird. Dies führt, solange dieses Phänomen nicht erkannt worden ist, fast immer zu einer Irritation des Gruppenprozesses.

Zum ersten Mal begegnete mir dieses Phänomen bewusst auf der Balinttagung in Berlin 2004. Der Referent hatte einen Fall von einer offensichtlich agierenden Patientin vorgestellt, die sich ihm, auf sehr bedürftige Weise Hilfe suchend, immer wieder zugewandt hätte, um daraufhin alle gemeinsamen Pläne zu durchkreuzen und sich anderen Helfern zuzuwenden.

Ein Mitglied der Gruppe erklärte dann im Verlauf, dass er als Patient enormen Lustgewinn in der Sache verspüren würde, indem er den Therapeuten und andere Helfer oder Instanzen beliebig „an der Leine tanzen lassen” könnte. Dabei beschrieb er ausführlich und eindrücklich die vermeintliche Freude über den gewonnenen Machtgewinn. Er unterstellte der Patientin außerdem einen Vorsatz und eine Planungsfähigkeit, zu denen jene vermutlich überhaupt nicht fähig war, zumal ihre ausgesprochene Bedürftigkeit, die bei anderen Gruppenteilnehmern auch deutlich spürbar wurde, dies bei dem eher niedrigen Strukturniveau gar nicht zugelassen hätte.

Jedenfalls hinterließ die Rede einen Unmut in der Gruppe, die sich in Schweigen und einer gewissen Reizbarkeit manifestierte, bis geklärt wurde, dass sich dieser Teilnehmer primär gar nicht, wie vorgegeben, mit der Patientin, sondern vielmehr mit dem Therapeuten identifiziert hatte. Als dieser hatte er zunächst vermutlich Ohnmacht aufgrund der Fremdbestimmung, dann aber Ärger über die manipulierende Klientin empfunden. Mit diesem Gefühl übernahm er nun die Patientenrolle wie eine Hülle bzw. diesmal als Identifikation im Sinne eines Abwehrmechanismus, ohne sich mit der tatsächlich dargestellten Patientin wirklich zu identifizieren. Bei genauer Betrachtung könnte man feststellen, dass die Identifikation auch mit einem kleineren, die Ohnmacht abwehrenden Teil der Patientin übereinstimmt. Im Wesentlichen entspricht sie aber einem sich ärgernden Therapeuten.

Das beschriebene Phänomen begegnete mir noch weitere Male, zuletzt auf der Tagung in Aachen 2007. Mir fiel auf, dass die Pseudoidentifikation mit dem Therapeuten, hinter der primär die Identifikation mit dem Klienten steckt, vermutlich noch häufiger ist.

Ein hierfür repräsentatives Beispiel ist folgendes:

Eine Referentin erzählte von einem einmaligen Kontakt mit einer Patientin, der sich äußerst unangenehm gestaltet hatte. Sie war überfrachtet worden von der sie bedrängenden und hoch bedürftigen Patientin. Der Kontakt hatte sich deutlich über die normale Zeitspanne hin ausgedehnt und hatte eine klar ablehnende Haltung bei der Referentin hinterlassen.

Im Verlauf der Sitzung wurde das Leid der Patientin gut transparent. Das Leid der Behandlerin jedoch nicht. Das lag u. a. an der Stellungnahme einer Teilnehmerin, die erklärte, dass sie in der Therapeutenrolle großes Mitleid empfinde und diese Patientin gerne behandeln würde. Mehrere andere Teilnehmer schlossen sich dieser Haltung in ähnlicher Form an, was bewirkte, dass sich die wieder in die Gruppe zurückgeholte Referentin über mangelndes Verständnis der Gruppe bez. ihrer Person beklagte.

Tatsächlich hatte sich die Teilnehmerin zunächst mit der Patientin identifiziert. Hier hatte sie das Leid und die Bedürftigkeit gespürt, was Ohnmachtsgefühle ausgelöst haben wird. Dann schlüpfte sie in die wesentlich mächtigere Therapeutenrolle (Rollenidentifikation als Abwehr), in der sie die Ohnmacht in Mitleid umwandeln konnte, ohne sich jedoch jemals wirklich mit der anwesenden Referentin zu identifizieren. Vielmehr stellte sie sich in ihrer ganz eigenen Therapeutenrolle vor, in der sie jetzt sogar aktiv gegen das Leid angehen konnte, um so die Ohnmacht noch weiter hinter sich zu lassen.

Das beschriebene Phänomen scheint häufiger in Balintgruppen mit erfahreneren Mitgliedern aufzutreten, da diese bereits mit dem klaren Bewusstsein einer eintretenden Identifikation die Balintarbeit antreten. Das hat nicht selten zur Folge, dass sie nicht nur ein Gefühl äußern, sondern deren Herkunft bereits benennen. Manchmal werden sie aber in der oben dargestellten Weise Opfer ihrer eigenen Abwehr. Man könnte auch sagen, dass es zu einer primären Identifikation im Sinne des sozialen Anschlussmotivs kommt. Diese erweist sich jedoch als unangenehm, da sie ohnmächtige Gefühle auslöst, daher werden diese Gefühle auf das in dieser Situation vermeintlich stärkere imaginäre Gegenüber projiziert, um sich schließlich mit diesem zu identifizieren und damit die Insuffizienzgefühle abzuwehren. Wie auch immer man geneigt ist, den Ablauf des Phänomens zu erklären, so ist in erster Linie die Beachtung auf die primäre Identifikation zu lenken, da alles Weitere letztendlich zu einer Art „Pseudoidentifikation” auf dem Boden der Balintarbeit führt.

Wird das Phänomen frühzeitig erkannt, dient es dem Gruppenprozess, ansonsten kann es ihn behindern. Im Wesentlichen ist es natürlich Aufgabe des Leiter oder auch Co-Leiters, die Pseudoidentifikation zu erkennen und dem Teilnehmer zu spiegeln. So kann diesem selbst die Möglichkeit gegeben werden, die Abwehr und die dahinter liegenden Gefühle zu betrachten. Das würde zum besseren Verständnis des emotionalen Erlebens beider Charaktere führen und im o. b. Fall zur Einsicht der Ohnmachtsgefühle der Patientin und schließlich der Referentin, auf die diese übetragen worden sind.

Es kommt auf den Gruppenleiter an, inwieweit er die Gruppendynamik erkennt und diese für den Gruppenprozess so umsetzt, dass es zu einer weitreichenden Analyse der Therapeuten-Klienten-Beziehung kommt [5]. Ein zu passiver Leiter bietet im Allgemeinen zwar viel Raum für einen lebhaften Gruppenprozess und Emotionen, es wird aber zu wenig Hilfe für deren Verarbeitung angeboten [3].

Daher sollte sich der Balintleiter dieses Phänomens grundsätzlich bewusst sein, damit er es bei tatsächlichem Auftreten frühzeitig erkennt, um dann intervenieren zu können.

Literatur

  • 1 Elhardt S. Tiefenpsychologie - Eine Einführung. Kohlhammer, Stuttgart 1988
  • 2 Heckhausen H. Motivation und Handeln. Springer, Berlin, Heidelberg, New York 1980
  • 3 Knoepfel H-K. Einführung in die Balint-Gruppenarbeit. In: Balint E, Luban-Plozza B (Hrsg). Patientenbezogene Medizin. Bd. 3. Gustav-Fischer, Stuttgart, New York 1980
  • 4 Murray H A. Explorations in personality. Oxford University Press, New York 1938
  • 5 Stucke W. Die Leitung von Balintgruppen - Ein Leitfaden. Deutscher Ärzteverlag, Köln 1991

Dr. J. Beckmann , Oberarzt

Psychiatrische Abteilung des Gemeinschaftskrankenhauses Herdecke

Gerhard-Kiente-Weg 4

58313 Herdecke

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