Balint Journal 2007; 8(3): 73-84
DOI: 10.1055/s-2007-981275
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Die heilsame Kraft der Beziehung bei Sándor Ferenczi

Philosophische und psychoanalytische UntersuchungenThe Healing Power of Relationship for Sandór FerencziPhilosophical and Psychoanalytical InquiriesE. Düsing1
  • 1Universität Köln / University of Cologne
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Publication Date:
26 October 2007 (online)

Zusammenfassung

Ohne Sympathie keine Heilung -, so lautet Ferenczis Schlüsselthese. Freud wirft Ferenczi therapeutischen Enthusiasmus, Ferenczi Freud mangelndes Interesse an der therapeutischen Dimension der Psychoanalyse vor. Jede Eintragung Ferenczis im Klinischen Tagebuch ist als Auseinandersetzung mit Freud zu lesen. Für seine Patienten will er etwas erfinden, von dem er sich gewünscht hat, Freud möge es für ihn erfinden. Das schlimmste frühe Trauma ist nach Ferenczi das zugleich Erleben von Vaterbedrohung und Mutterverlassenheit. Das bedeutet für ein Kind, keine Chance haben, sich über die erlittene Qual auszuweinen oder Anklage zu erheben. Das Gefühl der Ungerechtigkeit und Ausweglosigkeit ist so absolut, dass das werdende Ich sich von der Realität zurückzieht, eine Schreck-Abspaltung mit Ich-Abwesenheit vornimmt. Für Ferenczi ist das Überfließen heilenden Mitleids sein ureigenes Postulat der therapeutischen Vernunft. Die vom Trauma fragmentierte Seele wird durch Zustrom reiner Sympathie, d. h. durch eine von jeder Ambivalenz gereinigte Liebe, wie von einem schützenden Mantel umhüllt, sodass die Fragmente des Ich und somit das ganze Ich wieder zur Einigung mit sich gelangen. Wirkliche menschliche Teilnahme in Momenten realer Erschütterung ist für Ferenczi ein erstes Stück der Heilung selbst. Wahre Therapie heißt für Ferenczi, die körperlich und seelisch toten Seelenstücke wiederzubeleben. Mit Fichte und Hegel stimmt Ferenczi überein, dass das „Persönlichkeitsgefühl (Gefühl der eigenen Größe, Form, Wert)” Produkt der Anerkennung ist. Je mehr aber das frühe Anerkanntsein und damit die Selbstachtung untergraben ist, umso höher steigt später der Anspruch an Therapeuten. Bedingungsloses frühestes Anerkennen steht an der Wiege der Menschwerdung, gründet das Urvertrauen (E. H. Erikson). Das Misslingen ursprünglicher Zärtlichkeit aber stiftet ein Urmisstrauen und macht spätere Beziehungsaufnahmen in Eros, Philia, Agape tragunfähig. Ferenczis diagnostische psychosomatische Schlüsselthese: Wenn die Psyche, das Seelen-Ich „katastrophiert” ist, fängt der Organismus, das Körper-Ich an zu denken! Das therapeutische Pendant dazu lautet: „Nur Sympathie heilt. (Healing)”! So wird das verletzte Ich mit seinen Abspaltungen versöhnt. Die Krönung der Therapie ist sittlich-religiöse Anerkennung von Arzt und Patient: „Gegenseitige Verzeihung!! - Enderfolg.” Das Resümee des gesamten Klinischen Tagebuchs lautet: „Ohne Sympathie keine Heilung -, höchstens, Einsichten in die Genese des Leidens”!

Abstract

Without sympathy no healing, so Ferenczi's key thesis. Freud accused Ferenczi of therapeutic enthusiasm, Ferenczi Freud of lacking interest in the therapeutic dimension of psychoanalysis. Every entry in Ferenczi's Clinical Diary attempts to come to terms with his teacher, friend and analyst, Freud. For his patients Ferenczi wanted to discover something, which he had wished that Freud might have discovered for him. For Ferenczi healing comprised the elimination of repression, a more highly developed sense of reality, an anxiety-free view of unfulfilled longing and the discovery of the truth of one’s unique life history, whose maieutic companion is the doctor. - The worst early trauma is for Ferenczi to simultaneously experience father's threatening und mother's abandonment. For a child, that means that it has no chance to have a good cry over its anguish or to complain. The feelings of injustice and hopelessness are so absolute that the ego retreats from reality and takes recourse to a frightfilled splitting in the absence of the ego. For Ferenczi “overflowing healing sympathy” is the most original postulate of therapeutic rationality. The influx of pure sympathy, “a love cleansed of every ambivalence” enwraps the soul fragmented by trauma in a protective mantel, so that the fragments, indeed the whole ego, again attain to unification with itself. The emotional closeness of the therapist makes possible the conversion of emotional upheavals into memory images and body sensations. - Genuine human compassion at times of real schock is for Ferenczi the beginning of healing itself. For Ferenczi true therapy involves the bodily and psychic “reviving of the dead soul fragments”. He is of the same mind as Fichte and Hegel: The sense of personality (the feeling for one's own importance, form, esteem) is “the product of recognition”! The more the early approval and recognition are undermined, the greater is the demand on the therapist to enclose the ego in the mantel of affectionate caring. Failure of original affection generates a basic mistrust and makes it virtually impossible to persue later relationships in eros, philia, agape. - Ferenczi's key diagnostic psychosomatic thesis: When the psyche, the soul-ego, is “catastrophied”, the organism, the body-ego, begins to think! The therapeutic counterpart to this is: “Only sympathy cures (healing)”! Ferenczi declaims the crowning moment of therapy with moral-religious approval: “Mutual forgiveness!! - Final success.” The resumé of the entire clinical diary is: Without sympathy no healing - at most insight into the genesis of suffering.

Literatur

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1 Die vorliegende Ferenczi-Studie widme ich ganz herzlich S. Christine Walther, meiner Freundin in Aidlingen.

2 Es dürfte kaum Zufall sei, dass L. Feuerbach, der z. B. von Martin Buber als Wegbereiter dialogischen Denkens aufgerufen wird, so feinsinnig vom „Geheimnis der Notwendigkeit des Du für das Ich” gesprochen hat. Denn L. Feuerbachs Vater hat als Justizrat eindringlich den Fall Kaspar Hauser untersucht und die geistig-seelischen, ja psychosomatischen Verwahrlosungsphänomene, die der zwangsisoliert Aufgewachsene zeigte, als unrühmlich grausames „Verbrechen”, nämlich der zerstörten Humanität angeprangert. Vgl. dazu P. J. A. Feuerbach [13]. - Die neueste Variante hierzu ist in unseren Tagen das durchleuchtete Schicksal von Genie; s. dazu J. C. Eccles [14].

3 Das zielt auf die Sinn stiftende Dimension ab, letztlich auf die Theodizeefrage, die der schwer Kranke nach Gottes Güte und Gerechtigkeit stellt: Wozu Leiden, - warum ich? - In den Evangelien wird Jesus als der gezeigt, der seine Hand auf Leidende legt, ihre Heilung also ganzheitlich durch Wort und leibliche Berührung zustande kommt, und als der, der Kranke ganz persönlich auf ihr innerstes (Nicht-)Wollen -, ja implizit auf ihr Festhalten am Symptom -, anspricht: „Willst Du gesund werden?” (Joh 5, 6). - Vgl. Greenson [20] und C. G. Jung [22] zum therapeutischen Bündnis; V. Frankl [23] zur „ärztlichen Seelsorge”, die eine Grenzscheide und einen Übergang des Arztes zum Seelsorger thematisiert.

4 Zu Ferenczis Kritik der Fühllosigkeit s. [1] Fer Tg 39-41, 239 f., 246-251, 257 f., 263 f..

5 Eindringlich zur Freud-Ferenczi-Kontroverse Judith Dupont in: Sigmund Freud. Sándor Ferenczi. Briefwechsel [26] Fer Fr Bd III / 1 Einleitung 9-42: „Ein frühes Trauma der psychoanalytischen Bewegung”; und J. Dupont in [1] Fer Tg Vorwort 25-31. Vgl. auch Michael Balint zu Ferenczi, Einleitung in [1] Fer Tg 32-36.

6 Mitanlass ist die Entfremdung von Freud, von ihrer „innigen Lebens-, Gefühls- und Interessengemeinschaft”, die Freud leicht mythologisierend als ein „psychologisches Verhängnis” erleidet, das über seinem Freund walte, an dem er sich keinen maßgebenden Anteil zuspricht. Ferenczi habe sich „planmäßig” von ihm „abgewendet”, ja sei von ihm „abgefallen”! ([25] Fer Fr 300, 298) Ergreifend sind Ferenczis selbstkritische Reflexionen zu den Vorteilen einer gehegten blinden Gefolgschaft und Adoration eines „kastrierenden Gottes” ([1] Fer Tg 249 ff., 277). Sein Sich-treu-Werden durch von ihm tief empfundenen Verrat an Freud bezahlt Ferenczi mit tödlicher Anämie. - Freud erklärt sich als zu jenen gehörig, „die mit ihrer Vaterimago nie fertig werden und darum ihr ewig nachlaufen” ([25] Fer Fr 182 f.). Ferenczi an Freud: „Möge alles Hoffnungsvolle für Sie gut bleiben und alles Widrige zergehen”. - Ich will Ihnen „das Wesentliche von dem, was ich von mir weiß, mitteilen” ([25] Fer Fr 126, 219). Freud an Ferenczi: „Sie sind ja eine so aufrichtige Natur, dass Sie in Fehlleistungen immer mitteilen, was Sie verbergen wollen.” ([25] Fer Fr 225) Bewegende Szene des Freundschaftsbruches: Freud erklärte mir, so Ferenczis Bericht an Izette de Forest, den sie Fromm für seine Freud-Biografie überließ, „dass ich mich auf eine schiefe Ebene begeben hätte und in entscheidenden Dingen von den … Techniken der Psychoanalyse abwiche. Ein solches Nachgeben gegenüber den Sehnsüchten und Wünschen des Patienten, so echt sie sein mögen, müsse den Patienten in viel größere Abhängigkeit vom Analytiker bringen. Der Analytiker könne diese Abhängigkeit nur zunichte machen, wenn er sich gefühlsmäßig völlig abschalte … Diese Warnung beendete das Gespräch. Ich streckte meine Hand zu einem herzlichen Abschiedsgruß aus. Der Professor kehrte mir den Rücken und ging aus dem Zimmer.” E. Fromm [27].

7 Kant definiert das Gewissen als die sich selbst richtende - das ist lossprechende oder aber verurteilende bzw. verdammende - moralische Urteilskraft [33]. Um lautere Sittlichkeit zu konstituieren und aufrechtzuerhalten, komme es darauf an, sich gegen jene himmlische Stimme, die im Gewissen vernehmlich ist, nicht „taub zu machen” [34] - H. Roth [35] nimmt von der reifen Kindheit an ein eigenes Suchen des nach Maßstäben an; erst von dieser Suchphase an kommt es zur „Geburt” eines eigenen Gewissenskompasses in einer normproduzierenden Tätigkeit, in der -, wie Fichte erklärt -, im Ich ein Gewissen autonom sich erzeugt. - G. W. Allport [36] knüpft an die klassische antike und christliche Tradition des Gewissens und des Personbegriffs an und erweist sie als empirisch gut bewährbar. Die säkulare philosophische Anthropologie und Psychologie hat scharfe Beobachtungen von diversen - unverschuldeten oder selbstverursachten - Verfallsgefahren des menschlichen Lebens angestellt, die von frühkindlicher Depression reichen bis hin zur Adoleszenzkrise und der Neigung zur Flucht in eine negative Identität (Erikson). Zur reifen Person des Menschen gehören nach Allport vorrangig: zielklares Handeln, sich als Täter seiner Taten annehmen, Sichorientieren an Wertmaßstäben, realistische Selbsteinschätzung gewinnen, über Humor verfügen, das ist ein Pathos der Distanz zu sich bzw. Innesein des Unproportionierten im eigenen Selbst, das Sichbewahren hoher Lebensziele gegen Widerstände. Im Fachjargon heißt das z. B.: nicht anfällig sein für „Regression”, im Besitz sein von „Frustrationstoleranz”, das besagt mit behavioristischen und psychoanalytischen Anklängen das, wozu schon Paulus ermahnte: „Wappnet euch mit Leidensbereitschaft!” (1. Petrus 4: 1, 19) Für Erikson ist Integrität oder Ganzheit (wholemindedness, wholeheartedness) die reifste, höchste Stufe der Persönlichkeitsentwicklung [37]; sie bedeutet ungebrochne Eigeninitiative und Bereitschaft zur Ausdehnung der Verantwortungssphäre. Zeichen von intellektueller Reife ist, wenn man sich immer weniger zufrieden gibt mit Antworten auf immer bessere Fragen.

8 Zum Ernst der oft herabgespielten oder verschleierten Realität von Kindesmißbrauch s. vorzüglich erhellend Ursula Wirtz [38], deren Verdienst außer in der freimütig wahrhaftigen Diagnose-Erhebung in der feinsinnigen therapeutischen Behandlungsdimension liegt.

9 C. G. Jung kennt nicht seltne Fälle einer Unauflösbarkeit der therapeutischen Beziehung, wie bei siamesischen Zwillingen, wo die Trennung der psychischen Symbiose -, sogar für beide Seiten -, lebensgefährlich sein kann -, was sich zuweilen erst mit beträchtlicher Zeitverzögerung herausstellt. - Er bringt das Exempel eines Kollegen: Bergunfall, den jener vorausgeträumt hat (C. G. Jung, [22], 156 und 250-255; vgl. 135-145, 175-185, 239).

Prof. Dr. phil. E. Düsing

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