Die Delegation der Patientenaufklärung an nachgeordnete Ärzte ist gängige Praxis in
der täglichen Klinikroutine. Doch Vorsicht: Ein aktuelles Urteil des Bundesgerichtshofs
könnte zu einer deutlichen Verschärfung der Anforderungen bei der Übertragung dieser
Aufgabe an einen Kollegen führen - zumindest bei schwierigen und seltenen Eingriffen.
Der behandelnde Arzt kann diese Aufklärung eines Patienten delegieren. Er muss dabei
jedoch sicherstellen und belegen können, dass der aufklärende Arzt den Patienten ordnungsgemäß
und inhaltlich umfassend aufklärt.
Ein neues Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 07.11.2006 (Aktenzeichen VI ZR 206/05)
könnte zu einer deutlichen Verschärfung der Anforderung an die Delegation der Aufklärung
auf nachgeordnete Ärzte führen.
Stein des Anstoßes: seltene Operation
Stein des Anstoßes: seltene Operation
Auslöser war folgender Fall: Eine Patientin hatte sich am 22.01.2002 aufgrund von
Oberbauchbeschwerden in der Chirurgischen Klinik des später verklagten Chefarztes
vorgestellt. Am folgenden Tag wurde sie stationär aufgenommen, dann über das Wochenende
vorübergehend entlassen. Am 06.02.2002 erfolgte eine Divertikeloperation am Zwölffingerdarm
durch den Chefarzt der Chirurgischen Klinik. Infolge einer Nahtinsuffizienz kam es
später zu einer schweren Bauchfellentzündung und einer eitrigen Bauchspeicheldrüsenentzündung.
Die Patientin musste daraufhin 49 Tage auf der Intensivstation behandelt werden, davon
lag sie etwa drei Wochen in einem künstlichen Koma unter Offenhaltung des Bauchraumes.
Zudem wurde sie noch fünfmal operiert. Nach ihrer Entlassung im Juni 2002 trat sie
eine Reha-Maßnahme an. Als Folge des langen Liegens auf der Intensivstation leidet
die Patientin unter einer Critical-Illness-Polyneuropathie am linken Unterschenkel
und am Fuß.
Vor der Operation führte der Stationsarzt zwei Gespräche mit der Patientin. Bei dem
Eingriff handelte es sich um eine sehr seltene, vom Stationsarzt selbst - trotz langjähriger
Berufserfahrung - noch nie durchgeführte Operation, über deren Risiken er sich selbst
durch ein Studium der Fachliteratur zuvor informieren musste.
Klage wegen unzureichender Aufklärung zunächst abgewiesen
Klage wegen unzureichender Aufklärung zunächst abgewiesen
Die Patientin verklagte den Chefarzt aufgrund des Vorwurfs unzureichender Aufklärung.
Die Klage wurde in erster Instanz zunächst abgewiesen. Auch die Berufung der Patientin
hatte keinen Erfolg. Nach Ansicht des Berufungsgerichts sei dem Chefarzt ein etwaiger
Aufklärungsfehler nicht zuzurechnen, denn dieser habe die Aufklärung in zulässiger
Weise dem Stationsarzt übertragen. Dieser sei als Facharzt hierfür ausreichend qualifiziert
und mit den medizinischen Gegebenheiten vertraut gewesen.
Anhaltspunkte dafür, dass es an einer hinreichenden Kontrolle gefehlt oder der Chefarzt
konkreten Anlass zu Zweifeln an der Zuverlässigkeit des Stationsarztes gehabt habe
oder hätte haben müssen, sah das Gericht nicht. Insbesondere die Tatsache, dass der
Chefarzt mit dem Stationsarzt seit zehn Jahren zusammengearbeitet habe und es im Zusammenhang
mit Aufklärungen noch nie zu Beanstandungen gekommen war, ließ nach Auffassung des
Gerichts diesen Schluss zu.
Bundesgerichtshof hebt das Urteil auf
Bundesgerichtshof hebt das Urteil auf
Der Bundesgerichtshof hob das Urteil des Berufungsgerichtes nun allerdings auf und
verwies den Fall zurück an das Berufungsgericht. Der oberste Gerichtshof teilt die
Auffassung des Berufungsgerichts nicht, dass ein möglicher Aufklärungsfehler dem Chefarzt
nicht zurechenbar sei. Auch das Berufungsgericht geht davon aus, dass ein Arzt grundsätzlich
für alle den Gesundheitszustand des Patienten betreffenden nachhaltigen Folgen haftet,
wenn der ärztliche Eingriff nicht durch eine wirksame Einwilligung des Patienten gedeckt
und damit rechtswidrig ist. Voraussetzung dafür ist aber eine vorausgehende ordnungsgemäße
Aufklärung.
Nach Auffassung des Bundesgerichtshofs kann die irrige Annahme des Operateurs, der
Patient sei ordnungsgemäß aufgeklärt worden, diese Aufklärung nicht ersetzen. Jeder
behandelnde Arzt sei verpflichtet, den Patienten hinsichtlich der von ihm übernommenen
Behandlungsaufgabe aufzuklären. Zwar könne ein Arzt die Erfüllung dieser Aufklärungspflicht
einem anderen Arzt übertragen (den dann die Haftung für Aufklärungsversäumnisse in
erster Linie trifft). Jedoch entlastet diese Delegation den behandelnden Arzt nicht
ohne Weiteres von der Haftung.
Strenge Anforderungen bei Delegation
Strenge Anforderungen bei Delegation
Ist der behandelnde Arzt von einer wirksamen Einwilligung des Patienten ausgegangen,
kann sein Verhalten zwar rechtswidrig, möglicherweise aber entschuldbar sein. Dann
dürfte der Irrtum des Chefarztes jedoch nicht auf Fahrlässigkeit beruhen. Nach Ansicht
des Bundesgerichtshofs ist eine Fahrlässigkeit bei einer Übertragung der Aufklärung
auf einen anderen Arzt dann zu verneinen, wenn der nicht selbst aufklärende Arzt durch
geeignete organisatorische Maßnahmen und Kontrollen sichergestellt hat, dass eine
ordnungsgemäße Aufklärung durch den damit betrauten Arzt gewährleistet ist.
Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts, wonach der Chefarzt nur haften würde,
wenn es zum einen an einer hinreichenden Kontrolle fehlte und der Operateur zum anderen
konkreten Anlass zu Zweifeln an der Zuverlässigkeit des Stationsarztes hatte oder
hätte haben müssen, meint der Bundesgerichtshof, dass das Berufungsgericht hier die
Bedeutung der ärztlichen Arbeitsteilung verkennt. An die Kontrollpflicht des behandelnden
Arztes, der einem anderen Arzt die Aufklärung überträgt, sind daher, so der Bundesgerichtshof,
strenge Anforderungen zu stellen.
Ordnungsgemäße Aufklärung sicherstellen und dokumentieren
Ordnungsgemäße Aufklärung sicherstellen und dokumentieren
Zunächst muss der behandelnde Arzt bei der Übertragung dieser Aufgabe auf einen Kollegen
deren ordnungsgemäße Erfüllung sicherstellen und im Arzthaftungsprozess darlegen,
was er hierfür getan hat. Dazu gehört die Angabe, ob er sich etwa in einem Gespräch
mit dem Patienten über dessen ordnungsgemäße Aufklärung und/oder durch einen Blick
in die Krankenakte vom Vorhandensein einer vom Patienten und vom aufklärenden Arzt
unterzeichneten Einverständniserklärung vergewissert hat, dass eine für einen medizinischen
Laien verständliche Aufklärung unter Hinweis auf die spezifischen Risiken des vorgesehenen
Eingriffs erfolgt ist.
Diese Grundsätze müssten erst recht gelten, wenn der Operateur als Chefarzt Vorgesetzter
des aufklärenden Arztes und diesem gegenüber überwachungspflichtig und weisungsberechtigt
ist, betont der Bundesgerichtshof. Zu den Pflichten eines Chefarztes gehöre es nämlich,
für eine ordnungsgemäße Aufklärung der Patienten seiner Klinik zu sorgen. Hat er also
seine Aufklärungspflicht delegiert, darf er sich auf deren ordnungsgemäße Durchführung
und insbesondere deren Vollständigkeit nur dann verlassen, wenn er hierfür ausreichende
Anweisungen erteilt hat, die er gegebenenfalls im Arzthaftungsprozess darlegen muss.
Dazu gehört nach Auffassung des Bundesgerichtshofs die Angabe, welche Maßnahmen organisatorischer
Art er getroffen hat, um eine ordnungsgemäße Aufklärung durch den nicht operierenden
Arzt sicherzustellen. Darüber hinaus muss der Chefarzt darlegen, ob und gegebenenfalls
welche Maßnahmen er ergriffen hat, um die ordnungsgemäße Umsetzung der von ihm erteilten
Aufklärungsanweisungen zu überwachen. Im zu entscheidenden Fall wurde vom Berufungsgericht
weder festgestellt, welche Organisationsanweisungen zur Aufklärung erteilt worden
sind, noch in welcher Form diese Einhaltung überwacht worden ist.
Noch strenger bei schwierigen oder seltenen Eingriffen
Noch strenger bei schwierigen oder seltenen Eingriffen
Im strittigen Fall geht der Bundesgerichtshof sogar noch über die eben geschilderten
Voraussetzungen hinaus, da es sich um eine sehr seltene Operation gehandelt hat. Offen
blieb zwar, ob für eine solch seltene Operation stets eine ausdrückliche Organisationsanweisung
zur Aufklärung bestehen muss. Doch bei Eingriffen mit besonderen Risiken reicht nach
Ansicht des Bundesgerichtshofs eine allgemeine Organisationsanweisung zur Aufklärungspflicht
nicht aus, die hierauf keine Rücksicht nimmt. Der BGH fordert jedoch nicht, dass bei
schwierigen und seltenen Eingriffen die Risikoaufklärung nur durch den Operateur selbst
vorgenommen wird.
Organisation der Aufklärung sicherstellen
Organisation der Aufklärung sicherstellen
Im Falle der Delegation müsse für solche Eingriffe entweder eine spezielle Aufklärungsanweisung
existieren oder jedenfalls gewährleistet sein, dass sich der Operateur auf andere
Weise - zum Beispiel in einem Vorgespräch mit dem aufklärenden Arzt - vergewissert,
dass dieser den Eingriff in seiner Gesamtheit erfasst und dem Patienten die erforderlichen
Entscheidungshilfen im Rahmen der Aufklärung geben konnte. Nur wenn eine solchermaßen
zureichende Organisation der Aufklärung sichergestellt und überwacht wird, darf sich
der Chefarzt darauf verlassen, dass sich der aufklärende Arzt an die allgemeinen oder
im Einzelgespräch erteilten Organisationsanweisungen hält.
Der Bundesgerichtshof wies daher den Fall zurück an das Berufungsgericht, das nun
die fehlenden Feststellungen zur Organisation der Aufklärung in der vom Chefarzt geleiteten
Klinik nachholen muss.
Bei schwierigen Fällen ist der Chefarzt gefragt
Bei schwierigen Fällen ist der Chefarzt gefragt
Das Urteil wird derzeit durchaus kontrovers diskutiert. Wichtig ist sicherlich, dass
man es unter dem Gesichtspunkt liest, dass es sich um einen sehr seltenen Eingriff
gehandelt hat, der vom aufklärenden Arzt selbst noch nie durchgeführt wurde. In solchen
Fällen wäre es nachvollziehbar, dass der Chefarzt mit diesem Eingriff verbundene Risiken
unter Umständen genauer überblicken kann als der Arzt, den er mit der Aufgabe der
Aufklärung beauftragt. Nur in derartigen Fällen scheint der Bundesgerichtshof die
Voraussetzungen für die Aufklärung bzw. die Kontrolle durch den vorgesetzten Chefarzt
noch enger fassen zu wollen.
Ein Blick in die Krankenakte bzw. die schriftliche Einverständniserklärung wird daher
in solchen Fällen voraussichtlich zukünftig nicht mehr ausreichen. Insoweit fordert
der Bundesgerichtshof eine explizite Aufklärungsanweisung für schwere Fälle, da diese
von der allgemeinen Organisationsanweisung wohl nicht erfasst sein sollen. Um den
Anforderungen des Urteils gerecht zu werden, wäre gegebenenfalls eine Dienstanweisung
des Chefarztes sinnvoll, in der festgelegt ist, dass bei schwierigen Fällen die Aufklärung
grundsätzlich durch den Chefarzt persönlich oder im Falle der Delegation eine Einzelfallkontrolle
durch den Chefarzt zu erfolgen hat.