Zeitschrift für Palliativmedizin 2006; 7(1): 1
DOI: 10.1055/s-2007-972173
Editorial

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Palliativmedizin und Multiple Sklerose?

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Publication Date:
27 March 2007 (online)

 

Palliativmedizin und MS? Das klingt ja intuitiv zunächst kontraintuitiv; oder ist dies vielleicht eine Zukunft der Palliativmedizin? Doch eins nach dem anderen...

Die Palliativmedizin in Deutschland begann - wie auch in vielen anderen Ländern - mit dem Ziel, die Situation sterbender Krebspatienten und ihrer Angehörigen zu verbessern. Seitdem ist vieles erreicht, manches sicher noch nicht ideal, vor allem ist eine ausreichende und flächendeckende Finanzierung noch nicht gesichert. Abgesehen von diesen - drängenden - Alltagsfragen darf auch erlaubt sein, zu überlegen, wohin sich die Palliativmedizin in Zukunft inhaltlich entwickeln könnte.

"Die Zukunft der Palliativmedizin" - dies war auch das Thema des Eröffnungssymposiums der neu gegründeten Klinik und Poliklinik für Palliativmedizin in Köln im Oktober 2005. Gastrednerin war Prof. Irene Higginson vom King's College in London. Sie sieht insbesondere zwei inhaltliche zukünftige Herausforderungen an die Palliativmedizin: Den steigenden Anteil älterer Menschen in unserer Gesellschaft und die damit notwendige vermehrte Zusammenarbeit zwischen Palliativmedizin und geriatrischen Strukturen sowie die Zuwendung zu nichtonkologischen Patienten.

Die zukünftige Entwicklung wird sich weniger an dem orientieren, was wir als Palliativmediziner vorgeben, sondern an den Patientenbedürfnissen. Nur so ist verständlich, dass sich vor etwa 10 Jahren eine MS-Betroffene in London fragte: Wieso stehen die Palliativ- und Hospizeinrichtungen, die in England seit 1967 bestehen, meist nur Tumorpatienten offen? Wieso können nicht auch bedürftige MS-Patienten von palliativmedizinischen Angeboten profitieren? Auch Patienten mit nicht tumorbedingten Erkrankungen - auch die eher chronisch verlaufenden Erkrankungen - haben belastende Symptome, spezielle Pflegeprobleme und komplexe psychosoziale Bedürfnisse. Dieser Anstoß einer MS-Betroffenen vor 10 Jahren führte zu einem von der Patientenorganisation "British MS Society" geförderten Forschungsprojekt am King's College in London, dessen Ergebnisse Ende Januar 2006 in London der Öffentlichkeit vorgestellt wurden. Im Rahmen dieses 3-jährigen Projekts wurde ein palliativmedizinisches Beratungsteam für die bestehenden Strukturen der Versorgung MS-Kranker im Südosten Londons eingerichtet und dessen Effekt evaluiert. Die drei wichtigsten Erkenntnisse sind:

1. Ein derartiges Beratungsteam, das als Ergänzung bestehender Strukturen gedacht ist, wird sehr gut von Patienten, Angehörigen, Hausärzten, Neurologen, Pflegekräften etc. angenommen.

2. Palliativmedizinisch konnte das Team vor allem bei der Behandlung der Symptome Übelkeit/Erbrechen und neuropathischer Schmerz helfen.

3. Die Notwendigkeit der Beratung durch das Palliativteam war bei den meisten Patienten nach drei Kontakten nicht mehr gegeben.

Diese Ergebnisse aus dem Londoner MS-Projekt zeigen klar, dass palliativmedizinische Erfahrung tatsächlich auch sehr hilfreich für die Patienten sein kann, die an chronischen, nicht tumorbedingten Erkrankungen leiden, wenn die angebotenen Strukturen als Ergänzung bestehender Versorgungsstrukturen verstanden werden. Hierzu gehört auch, dass die Palliativmedizin nicht beabsichtigt, im Laufe der Zeit die Versorgung komplett zu übernehmen, sondern sich als vorübergehendes, eher beratendes Angebot versteht.

Auch bei uns in Deutschland unterstützt die Deutsche MS Gesellschaft (DMSG) entstehende Initiativen in dieser Richtung: Eine erste Umfrage unter den Mitgliedern des Ärztlichen Beirates ergab eindeutig Lücken in der Versorgung schwer betroffener MS-Patienten in Deutschland. Die DMSG plant jetzt zusammen mit dem Lehrstuhl für Palliativmedizin in Köln die Durchführung von Veranstaltungen für schwer betroffene MS-Patienten, Ausbildung von MS-Pflegekräften in Grundlagen der Palliativmedizin sowie gemeinsame Forschungsprojekte.

MS könnte tatsächlich ein Beispiel dafür sein, dass wir als Palliativmediziner uns vermehrt auch Patientengruppen mit nicht tumorbedingten und eher chronisch verlaufenden Erkrankungen zuwenden werden. Und da gibt es sicher viele bisher unzureichend versorgte Bedürfnisse bei Patienten mit Demenz, Herzinsuffizienz, neurodegenerativen Erkrankungen, COPD.....

MS und Palliativmedizin? Ja klar!

Prof. Dr. R. Voltz

Dr. Ch. Ostgathe

Köln

D. Pitschnau-Michel

DMSG Bundesverband e.V., Hannover