PPH 2007; 13(4): 175
DOI: 10.1055/s-2007-963455
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Editorial

U. Villinger
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
14. August 2007 (online)

„Aus dem Projekt ‚Maßnahmen zur Schaffung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und eines Begutachtungsinstruments zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI’ hat der VdAK/AEV erste Ergebnisse präsentiert. Dabei handelt es sich um ein Gutachten der Universität Bielefeld zur Neufassung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs…”. Dies ist in einer Nachricht in der Zeitschrift „Rechtsdepesche für das Gesundheitswesen” zu lesen. Und weiter: „ … so gilt eine Person dann als pflegebedürftig, wenn sie aufgrund fehlender personaler Ressourcen (mit denen körperliche oder psychische Schädigungen, die Beeinträchtigung körperlicher oder kognitiver/psychischer Funktionen, gesundheitlich bedingte Belastungen oder Anforderungen kompensiert oder bewältigt werden können) dauerhaft oder vorübergehend nicht in der Lage ist zu selbständigen Aktivitäten im Lebensalltag, selbständiger Krankheitsbewältigung oder selbständiger Gestaltung von Lebensbereichen und sozialer Teilhabe und daher auf personelle Hilfe angewiesen ist.” [1]

Trotz des langen und erst beim zweiten Lesen verständlichen Satzes bin ich neugierig geworden und habe auf der angegebenen Internetseite in der Arbeit des Instituts für Pflegewissenschaft der Universität Bielefeld „Recherche und Analyse von Pflegebedürftigkeitsbegriffen und Einschätzungsinstrumenten” in der Fassung vom 23. März 2007 nachgelesen.

Daraus geht im Kapitel 6 „Das alternative Begutachtungsverfahren der MDK-Gemeinschaft” unter anderem hervor, dass „der Begriff der Pflegebedürftigkeit sich in Analogie zum SGB IX an den Defiziten zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben orientiert. Menschen wären demnach pflegebedürftig, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem typischen Zustand abweichen, ihre Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft daher beeinträchtigt ist und sie auf Dauer der Hilfe und Pflege bedürfen” [2 (S. 90)]. …„Der Schweregrad der Pflegebedürftigkeit orientiert sich am Ausmaß der Abhängigkeit des Pflegebedürftigen von anderen Menschen. Die Beeinträchtigungen und der daraus resultierende Hilfebedarf werden anhand der Bereiche

Mobilität, Körperpflege, An- und Auskleiden, Essen und Trinken, Ausscheiden, Sicherheitsaspekte, Beschäftigung und Tagesgestaltung, Kommunikation und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, Haushalts- und Lebensführung

festgestellt.” … „Das Spektrum der vom Instrument berücksichtigten Selbständigkeitsverluste … ist dementsprechend deutlich weiter gefasst als in den gegenwärtig geltenden Vorschriften des SGB XI … [2 (S. 91)].

Die Analyse des Instituts für Pflegewissenschaft der Universität Bielefeld umfasst noch viele anderen interessante Aspekte des Themas. Die Arbeit untersucht den Beitrag der Pflegetheorien zum Begriff der Pflegebedürftigkeit, beschreibt die nationale und internationale Diskussion zum Thema, vergleicht die unterschiedlichen sozialen Sicherungssysteme im Zusammenhang mit Pflegebedürftigkeit u. v. m.

Ist die Rationierung von Pflegeleistungen im ambulanten wie im stationären Bereich direkt mit der engen Definition von Pflegebedürftigkeit im SGB XI in Zusammenhang zu bringen?

Wie stark hat die enge Ausformulierung des Begriffs der Pflegebedürftigkeit im § 14 SGB XI das berufliche Selbstverständnis von Pflegekräften in den letzten Jahren eingeengt? Lässt sich und wenn ja, mit welchen Mitteln, diese von mir vermutete oder befürchtete Einengung wieder aufheben oder schrittweise umkehren? Reicht die Novellierung des Pflegeversicherungsgesetzes aus, um hier wieder einem umfassenden Pflegebegriff Platz zu geben, nachdem die Auszubildenden vor allem der Altenpflege in den letzten Jahren eine Praxis des Pflegemangels erlebt haben?

In der Praxis der ambulanten und stationären Altenpflege erlebe ich derzeit am Beispiel eines schwer chronisch psychisch kranken älteren Herrn, den ich schon lange kenne, dass viele Berufskolleg/Innen die Anforderungen des SGB XI erfüllen und auf Körperpflege, Ernährung, Mobilität und hauswirtschaftliche Versorgung achten. Sie haben leider keine Möglichkeit zu überlegen, mit welchen Gründen sich die Pflegebedürftigkeit des Klienten erklären ließe und auch keine, daraus sich ableitende entsprechende psychosoziale Maßnahmen auszudenken. Es bleibt zu fordern, dass ein erweitertes Verständnis der Pflegebedürftigkeit politisch durchgesetzt wird.

Literatur

  • 1 Universität Bielefeld .Universität Bielefeld erstellt erste Definition zum neuen Begriff der Pflegebedürftigkeit. Rechtsdepesche für das Gesundheitswesen 2007 Heft 4: 132
  • 2 Institut für Pflegewissenschaft an der Universität Bielefeld . Recherche und Analyse von Pflegebedürftigkeitsbegriffen und Einschätzungsinstrumenten.  2007;  Fassung vom 23. März 2007 , www.vdak.de Zugriff am 2.8.2007
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