Balint Journal 2007; 8(1): 32-33
DOI: 10.1055/s-2007-960675
Leserbrief

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Zum Übersichtsreferat „Wir und der Tod - ist Psychotherapie bei Sterbenden, ihren Angehörigen und ihren Ärzten sinnvoll?” Leserbrief zu Balint 2006; 7: 2-12W. Kuhn
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Publication Date:
30 March 2007 (online)

In dem so inhaltsreichen und bewegenden Beitrag von E. R. Petzold habe ich eine Fülle von Gedanken gefunden zu einem Thema, das uns (auch) in der Balint-Arbeit in den letzten Jahren immer stärker beschäftigt: Nach meiner eigenen Erfahrung mit einer seit vielen Jahren bestehenden kontinuierlichen Balint-Gruppe von Allgemeinmedizinern sind vor allem diese ständig und ganz offensichtlich immer öfter und heftiger konfrontiert mit den Fragen der Patientenverfügungen, der Palliativmedizin, der Sterbebegleitung, der Betreuung trauernder Angehöriger - und sie haben oft schwer zu kämpfen um die Bewältigung ihrer eigenen Betroffenheit und Ängste („letztlich” sind wir ja alle „präterminal”) angesichts des massenhaften Sterbens in den Alten- und Pflegeheimen, aber auch in den verwahrlosten Wohnungen ihrer sehr alten Patienten. Ich habe den Eindruck, dass inzwischen die meisten der in der Gruppe vorgestellten Fälle in diesen Themenkreis fallen (nebenbei: Es wäre interessant, bei einer repräsentativen Zahl von Balint-Gruppen die Themen und deren „Häufigkeitsverlauf” über die letzten Jahre zu erfragen und auszuwerten). Petzolds Text kommt also gerade zur rechten Zeit, ist für die ganz konkrete Balint-Arbeit hochaktuell. Er enthält so viele Informationen und Anregungen, dass ich ihn inzwischen mehrmals gelesen habe: Sehr beschäftigt haben mich u. a. die Hinweise auf die Bedeutung des Rituellen bzw. der Rituale im Zusammenhang mit Sterben und Tod („die ritualisierte Form des Jemanden die Ehre geben”, „Begehen des Sterbens im Sinne eines Rituals”, „Sterben-Lernen als Lebensaufgabe” etc.). Tod und Geburt sind ja „prototypisch” für unsere Erfahrungen mit Übergängen und Übergangsritualen im Sinne echter initiatischer (Wachstums-)Prozesse. Jede wirksame Initiation braucht aber, neben anderen, vor allem drei „entscheidende” Elemente: Unvermeidlichkeit, Alternativlosigkeit, Irreversibilität. Und gerade hier gibt es einen offensichtlichen, fundamentalen Widerspruch zum „irgendwas geht immer” unserer hedonistischen Event- und Konsum-Kultur, die ja gerade davon „lebt”, dass wir „in die Lage versetzt” wurden, alles zu vermeiden (z. B. durch Technik, auch durch „Techniken” in der Psychotherapie), zu widerrufen, aus einer möglichst großen Zahl von Möglichkeiten auszuwählen. Und v. Försters „ethischer Imperativ” („Handele immer so, dass Du neue Möglichkeiten schaffst!”) ist hilfreich eben nur als Leitlinie in trivialen, prophanen (Alltags-)Situationen, aber er versagt vor dem realen und dem symbolisch-rituellen Tod: Denn der lässt uns keine Wahl, er verweigert uns die elementarste Alternative - die Möglichkeit zum vorhergehenden Zustand zurückzukehren. Eine echte Initiation ermöglicht uns den Übergang, die radikale Wandlung gerade deshalb, weil zu ihr der Tod des Vorhergehenden gehört und weil sie uns keine Alternative lässt. Durch die ritualisierte Begegnung mit dem Tod und mit den damit verbundenen, oft zutieftst verwirrenden, chaotischen, ängstigenden Erfahrungen - z. B. im religiösen und spirituellen Raum, in der Kunst, aber auch in der Psychotherapie (wichtig hierzu Petzolds Anmerkungen zum Umgang mit den „Räumen”, „Grenzen”, „Horizonten”, „Ordnungsübergängen” in der Psychotherapie) - lernen wir darauf zu vertrauen, dass wir aus solchem „Sterben” gestärkt und erneuert hervorgehen. Ist diese sich ständig wiederholende rituelle und symbolische Konfrontation mit dem „Tod” Teil des von Petzold angesprochenen lebenslangen Prozesses, der uns auf unseren realen Tod vorbereitet, weil uns dieses „Lernen” (nicht zuletzt auch in den Balint-Gruppen, in der „integrierten Balint-Arbeit”) immer wieder vor Augen führt, dass „vernichtende” Krisen (wie jede echte Initiation unvermeidliche, alternativlose und irreversible) Phasen des Übergangs sind und eben nicht der absolute Endpunkt des völligen Ausgelöschtwerdens? - Beim Lesen und Nachdenken erinnerte ich mich an das kleine Buch „Tod und Neurose” von Joachim E. Meyer (Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen: 1973): Er beschäftigt sich darin eingehend mit der Rolle der Thanatophobie bei der Neurosenentwicklung („Todesangst als Determinante bei der Entstehung von Neurosen”) und mit dem Umgang der modernen Medizin mit Alten und Sterbenden - dabei erklärt er, „warum es Angst-frei machen kann, sich mit dem Tode vertraut zu machen”, und er beruft sich auf einen Ausspruch von Seneca: „Um den Tod nie zu fürchten, denke ich immer an ihn!”

Dr. med. W. Kuhn

Mörikestr. 9

71384 Weinstadt

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