Z Sex Forsch 2007; 20(1): 69-76
DOI: 10.1055/s-2007-960555
Debatte

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Die neosexuelle Revolution und die funktional differenzierte Gesellschaft

Eine Antwort auf Volkmar SiguschS. Lewandowski
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Publication Date:
20 March 2007 (online)

In zahlreichen Texten mit abnehmender argumentativer Dichte „predigt” Volkmar Sigusch seit geraumer Zeit seine Theorie der neosexuellen Revolution und trägt wie ein Mantra die Überzeugung vor sich her, dass sich der sexuelle Wandel der letzten Dekaden nicht ohne eine „Kritik der politischen Ökonomie” verstehen lasse. Wie die moderne Sexualität ein Produkt des Kapitalismus sei, so präge der „Neoliberalismus” die zeitgenössischen Sexualformen (vgl. Sigusch 1988, 1998 a, 1998 b, 2001, 2005, 2006).

Unbestreitbar ist Siguschs Theorie der neosexuellen Revolution - vor allem in der Fassung, die in der „Psyche” publiziert wurde (Sigusch 1998 b) - ein moderner Klassiker der gesellschaftstheoretisch orientierten Sexualsoziologie, die in ihrem Anspruch, ihrer argumentativen Reichweite und ihrer theoretischen Tiefe weit über das im Fach Übliche hinausweist und die verdientermaßen breit rezipiert wurde (vgl. etwa Dannecker und Reiche 2000)[1].

Siguschs energische Klarstellungen gegenüber Vermutungen, er sei von seinen Thesen über den Zusammenhang von neosexueller Revolution und Neoliberalismus abgerückt (vgl. Sigusch 2006), bieten jedoch Anlass, seine theoretische Konzeption einer grundlegenden gesellschaftstheoretischen Kritik zu unterziehen. Inhaltlich ist Siguschs Beschreibungen weitgehend zuzustimmen: Das Sexuelle hat sich pluralisiert, Sexualität hat als Chiffre eines großen Glücksversprechens ausgedient und an kultureller Bedeutung eingebüßt. Siguschs zentrale Erkenntnis, dass in den letzten Dekaden eine schleichende, dritte sexuelle Revolution stattgefunden hat, die kleinere sexuelle Themen in den Fokus der Aufmerksamkeit rückte und Perversionen normalisierte und entpervertierte, ist so plausibel, dass es wenig zu diskutieren gibt. Zu diskutieren ist freilich, ob sich die von Sigusch beschriebenen Wandlungsprozesse im Rahmen der von ihm präferierten kritischen Gesellschaftstheorie adäquat analysieren lassen. Den Ausgangspunkt der folgenden Überlegung bildet daher die Frage, ob sich die zeitgenössische moderne Gesellschaft allein oder primär aus der Perspektive einer Kritik der politischen Ökonomie analysieren lässt oder ob eine kritisch-theoretische Ausrichtung nicht an der Realität vorbeigeht, zumindest aber zu kurz greift.

Literatur

  • 1 Dannecker M, Reiche R. (Hrsg) .Sexualität und Gesellschaft. Festschrift für Volkmar Sigusch. Frankfurt / M., New York: Campus, 2000
  • 2 Habermas J. Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt / M.: Suhrkamp, 1981
  • 3 Klimke D, Lautmann R. Die neoliberale Ethik und der Geist des Sexualstrafrechts.  Z Sexualforsch. 2006;  19 97-117
  • 4 Lewandowski S. Über Persistenz und soziale Funktionen des Orgasmus(paradigmas).  Z Sexualforsch. 2001;  14 193-213
  • 5 Lewandowski S. Sexualität in den Zeiten funktionaler Differenzierung. Eine systemtheoretische Analyse. Bielefeld: transcript, 2004
  • 6 Lewandowski S. „I can’t get no satisfaction”? Zum aktuellen Stand einer Soziologie der Sexualität.  Soziol Rev. 2006;  29 15-25
  • 7 Luhmann N. Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt / M.: Suhrkamp, 1982
  • 8 Luhmann N. Individuum, Individualität, Individualismus. In: Luhmann N. Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 3. Frankfurt / M.: Suhrkamp, 1989; 149-258
  • 9 Luhmann N. Die gesellschaftliche Differenzierung und das Individuum. In: Luhmann N. Soziologische Aufklärung, Bd. 6: Die Soziologie und der Mensch. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1995; 125-141
  • 10 Luhmann N. Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt / M.: Suhrkamp, 1997
  • 11 Nassehi A. Die paradoxe Einheit von Inklusion und Exklusion. Ein systemtheoretischer Blick auf die Phänomene. In: Bude H, Willisch A (Hrsg). Das Problem der Exklusion. Ausgegrenzte, Entbehrliche, Überflüssige. Hamburg: Hamburger Edition, 2006; 46-69
  • 12 Rastetter D. Die Entsexualisierung der Organisation.  Soziale Welt. 1999;  50 169-186
  • 13 Sigusch V. Was heißt kritische Sexualwissenschaft?.  Z Sexualforsch. 1988;  1 1-29
  • 14 Sigusch V. Kritische Sexualwissenschaft und die Große Erzählung vom Wandel. In: Schmidt G, Strauß B (Hrsg). Sexualität und Spätmoderne. Über den kulturellen Wandel der Sexualität. Beiträge zur Sexualforschung, Bd. 76. Stuttgart: Enke, 1998; 5-16 (zit. als 1998 a)
  • 15 Sigusch V. Die neosexuelle Revolution. Über gesellschaftliche Transformationen der Sexualität in den letzten Jahrzehnten.  Psyche - Z Psychoanal. 1998;  52 1192-1234 ,  (zit. als 1998 b)
  • 16 Sigusch V (Hrsg). Sexuelle Störungen und ihre Behandlung. 3., überarb. und erweit. Aufl. Stuttgart, New York: Thieme, 2001
  • 17 Sigusch V. Neosexualitäten. Über den kulturellen Wandel von Liebe und Perversion. Frankfurt / M., New York: Campus, 2005
  • 18 Sigusch V. Kann die neosexuelle Revolution ohne Neoliberalismus gedacht werden? Eine Antwort auf Daniela Klimke und Rüdiger Lautmann.  Z Sexualforsch. 2006;  19 234-240

1 Eine kritische Auseinandersetzung und systematische Würdigung der Theorie Siguschs findet sich auch bei Lewandowski (2004: 64-77; vgl. außerdem Lewandowski 2006).

2 Freilich ist Siguschs Konzeption hier von Ambivalenzen durchzogen: Einerseits sieht er die Genese der Sexualität als Frucht des Kapitalismus, während er andererseits davon ausgeht, dass der Sexualität ein fester Kern innewohnt (vgl. Sigusch 1998 b: 1228 f).

3 Vgl. zu Letzterem Lewandowski 2004.

4 Moderne Individualität verdankt sich nicht der Inklusion in, sondern der Exklusion aus sozialen Systemen. Luhmann spricht in diesem Zusammenhang von einer Umstellung auf „Exklusionsindividualität” (Luhmann 1989: 160; vgl. auch Luhmann 1995).

5 Mittels biologischer Fortpflanzung wird - entgegen weit verbreiteter Annahmen - nicht die Gesellschaft, sondern nur die humane Umwelt dieser (re-)produziert. Die Reproduktion der Gesellschaft geschieht allein durch Kommunikationen, d. h. im Hinblick auf „den Nachwuchs” durch Sozialisation.

6 Damit ist nicht gesagt, dass solche Einschränkungen immer gelungen sind, und es wird auch nicht behauptet, dass der Adel nur Endogamie praktiziert habe. Das entscheidende Argument ist vielmehr, dass sexuelle Exogamie ein Problem für den Erhalt der gesellschaftlichen Ordnung darstellte, da sie die Trennung zwischen Angehörigen verschiedener Schichten unterläuft. Vergleichbare Probleme finden sich heutzutage in Organisationen (vgl. Rastetter 1999).

7 Aus dieser Freigabe resultiert u. a. der oft bemerkte (und beklagte?) kulturelle Bedeutungsverlust des Sexuellen. Sexuelle Freiheit und gesellschaftliche Befreiung treten merklich auseinander.

8 Diese Orientierung scheinen auch „thrill”-betonte Neosexualitäten nicht aufgegeben zu haben.

9 Das heißt nicht, dass Sexualität nicht auch in neue Abhängigkeiten gerät; aber Abhängigkeiten und Unabhängigkeiten werden in neuer Weise kombiniert, ja aneinander gesteigert: Ausdifferenzierung und Autonomisierung auf der einen, entsprechende strukturelle Kopplungen auf der anderen Seite (vgl. auch Lewandowski 2004: 249-321).

10 Die Wirkmächtigkeit neoliberaler Ideologen auf dem Gebiete des Sexualstrafrechts haben zuletzt Daniela Klimke und Rüdiger Lautmann (2006) in eindrucksvoller Weise herausgearbeitet.

11 Hilfreich mag hier auch eine Unterscheidung Armin Nassehis sein. Nassehi beobachtet, zunächst ähnlich wie Sigusch, dass im 21. Jahrhundert eine ökonomisch programmierte Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft eine an Politik orientierte Selbstbeschreibung ablöst. Ökonomisch programmierte Selbstbeschreibungen beinhalteten eine „Semantik der Konkurrenz und der Flexibilität, der flachen Hierarchien und der steilen Leistungskurven” (Nassehi 2006: 63). Allerdings warnt Nassehi explizit vor einem Missverständnis, dem Sigusch offenbar erliegt: „Was ich die ökonomisch programmierte Form der Selbstbeschreibung nenne, ist nicht damit zu verwechseln, die ökonomische Codierung habe sich gegen andere Codierungen durchgesetzt. […]. Diese semantischen Dominanzen der Selbstbeschreibung setzen funktionale Differenzierung nicht außer Kraft, sie setzten sie vielmehr voraus” (Nassehi 2006: 64, Fn. 5).

Dr. phil. S. Lewandowski

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