Z Sex Forsch 2007; 20(1): 52-68
DOI: 10.1055/s-2007-960551
Debatte

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Poststrukturalismus und Geschlecht: Ein Blick zurück

S. Becker1
  • 1Sexualmedizinische Ambulanz, Klinikum der Universität, Frankfurt am Main
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Publication Date:
20 March 2007 (online)

Streifzug durch die Geschlechterdifferenz und ihre Auflösungen

Gegenwärtig erleben wir gleichzeitig sowohl einen rasanten Wandel als auch die Persistenz der Geschlechterdifferenz. Fünf Fallvignetten sollen dies schlaglichtartig illustrieren:

Geschlecht als unwandelbare Kategorie. „Das Prinzip der eindeutigen und unwandelbaren Einordnung in die alternative Kategorie ‚männlich’ - ‚weiblich’ durchzieht als selbstverständliche Voraussetzung nicht nur das gesamte soziale Leben, sondern auch die gesamte Rechtsordnung” (Bundesgerichtshof 1971[1]). Eine solche Aussage erscheint heute veraltet und ideologisch, obgleich sie nach wie vor auch zutrifft: Bei jeder Begegnung „erkennen” wir unser Gegenüber „auf den ersten Blick” als Mann oder als Frau. Diese meist präreflektiv, das heißt „ohne erlebbare Zeit zu verbrauchen” (Röttger-Rössler 2005: 197), und vorbewusst vorgenommene Geschlechtsklassifikation ist das Ergebnis komplexer symbolischer Verweisungszusammenhänge.

„Das Zwei-Geschlechter-System als Menschenrechtsverletzung”. So hieß 2005 eine Berliner Ausstellung[2], die das Leiden der heute als „Intersexuelle” (früher als „Hermaphroditen” bzw. als „Pseudohermaphroditen”) bezeichneten Menschen[3] thematisiert, das ihnen durch den von Medizin und Gesetzgebung ausgeübten gesellschaftlichen Zwang zur Eindeutigkeit des Geschlechts zugefügt wird. Wer Lebens- und insbesondere Behandlungsgeschichten von Intersexuellen kennt, kann dieser Einschätzung nur zustimmen. Die Macht der Zuschreibung innerhalb der Geschlechterdichotomie lässt den Intersexuellen keinen Raum für eine geschlechtliche Selbstbestimmung. Die Mehrheit der Intersexuellen kann man nicht anders als durch die Medizin schwer traumatisiert bezeichnen[4]. Das im Titel der Ausstellung implizit enthaltene und heute von manchen Intersexuellenverbänden manifest geforderte Recht auf ein Leben in geschlechtlicher Uneindeutigkeit ist berechtigt und wichtig als eine Kritik an der in der Medizin herrschenden Geschlechternormativität und am Eindeutigkeit erzwingenden Operationsdispositiv[5]. Es setzt sich aber weder mit dem Leiden der Betroffenen an ihrer geschlechtlichen Uneindeutigkeit auseinander noch mit der Zumutung, die es bedeutet, eine intersexuelle Identität zu entwickeln. Nicht thematisiert wird auch das Problem ihrer Eltern, ein Kind gleichsam im geschlechtlichen Schwebezustand zu halten und aufzuziehen.

Geschlecht als Wahlmöglichkeit. Sven, ein 30 Jahre alter Computer-Spezialist, wird von heterosexuellen Frauen und homosexuellen Männern gleichermaßen begehrt. Er selbst begehrt ausschließlich Frauen. Wenn Sven eine neue sexuelle Beziehung zu einer Frau eingeht, muss er ihr irgendwann „gestehen”, dass er keinen Penis hat bzw. nur einen ziemlich kleinen: eine durch männliche Hormone deutlich vergrößerte Klitoris. Sven ist Frau-zu-Mann-transsexuell. Aber niemand würde auf die Idee kommen, ihn angezogen nicht für einen Mann zu halten. Das gilt selbst dann, wenn er nur eine Badehose anhat, da sein Oberkörper (operativ hergestellte männliche Brust, hormonell bewirkte männliche Körperbehaarung) nicht anders aussieht als der anderer Männer. Sven hat sich keiner Operation am Genitale unterzogen, weil ihm die Risiken, die mit dem Aufbau eines „Penoids” verbunden sind, zu hoch sind. Sven hat keine Probleme damit, sexuelle Beziehungen zu Frauen einzugehen. Diese Beziehungen werden sowohl von ihm als auch von seinen jeweiligen Partnerinnen stets als heterosexuell verstanden.

Sven berichtet von einem Transgender-Kongress, den er besucht hat. In einer Selbsterfahrungsgruppe habe sich jede/r durch drei im Zusammenhang mit seinem Geschlecht stehende Aussagen über sich (z. B. „Ich war bei der Bundeswehr”, „Ich war schwanger” etc.) vorstellen müssen, wovon eine unwahr sein sollte. Die Gruppe habe dann herausfinden müssen, welche Aussage falsch war, was ihr aber nur in wenigen Fällen gelungen sei.

Die Buntheit der Formen des Geschlechtswechsels habe ihn beeindruckt. Nur mit einem/einer Teilnehmer/in sei er nicht zurechtgekommen: Diese Person habe darauf bestanden, zu jeder Tageszeit ihr Geschlecht neu zu definieren und dann jeweils in dem gerade angenommenen Geschlecht angesprochen zu werden. „Das war selbst für mich zu viel.”

Zuordnungsprobleme. Eine Patientin kommt mit dem Wunsch nach „Geschlechtsumwandlung”. Ich spüre im Gespräch viel Leiden am Frau-Sein, aber kaum männliche Identifizierung und narzisstische Selbstbesetzung als Mann und sage ihr, ich fühlte wenig davon, dass sie ein Mann sein will. „Was sonst?”, meint die Patientin resigniert, „es gibt doch nur zwei Möglichkeiten”. „Und wenn es mehr gäbe, z. B. fünf?” „Dann eine Stufe vor Mann”, antwortet sie strahlend.

Geschlecht und Geschlechtswerkzeuge. Ein 29-jähriger Mann bewirbt sich für den gehobenen Polizeidienst und besteht alle mentalen und körperlichen Eignungstests mit solcher Bravour, dass er entgegen den Usancen sofort eingestellt werden soll. Nachdem sich bei der Routine-Untersuchung durch den Polizeiarzt herausgestellt hat, dass er ein personenstandsrechtlich männlicher Frau-zu-Mann-Transsexueller ist, wird seine Einstellung abgelehnt. Laut Verordnung über die Laufbahn des Polizeidienstes sei ein männlicher Bewerber nur polizeidiensttauglich, wenn er über wenigstens einen funktionstüchtigen Hoden verfüge. Auf Nachfragen erfährt der abgelehnte Bewerber, dass eine entsprechende Vorschrift über einen funktionstüchtigen Eierstock bei Bewerberinnen nicht existiert.

Diese fünf Schlaglichter illustrieren, wie sehr der Diskurs über die Geschlechterdifferenz in Bewegung geraten ist. Sie zeigen aber auch, dass diese Bewegung an Grenzen stößt. Die binäre diskursive Ordnung der Geschlechter ist in Auflösung begriffen und existiert gleichzeitig fort - selbst in ihren Zerfallserscheinungen. Auch den extremsten Inszenierungen, Maskeraden, Parodien der Geschlechter haftet noch das an, wovon sie sich abstemmen. Man denke nur an die binär-geschlechtliche Konstruktion von Medienkörpern im Internet (vgl. Angerer 1999) oder an die zum Teil sehr traditionellen Frauenbilder in Chat-Rooms, die auch dadurch zustande kommen, dass dort als Frauen auftretende Männer nicht selten ihre unbewusste Repräsentanz vom Frauenselbst ihrer Mutter inszenieren. Auf hintergründige Weise reifiziert sich das Geschlecht somit selbst im „Gender Swapping”.

Der poststrukturalistische Genderdiskurs[6] hat die Auflösung der Geschlechterdifferenz bzw. das Verschwinden der Geschlechter ausgerufen,μ mal mit mehr, mal mit weniger revolutionärem Pathos[7]. Seit Anfang der 1990er-Jahre wird dieser Diskurs unter dem Signum „Queer” geführt. Die „Queer theory” ist eine „Frageperspektive” (Kraß 2003: 20), in deren Zentrum die Kritik an der hetero-normativen Definition von Geschlecht und Begehren steht. Das „politische Programm” der Queer-Theorie zielt „auf die Denaturalisierung normativer Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit, die Entkoppelung der Kategorien Geschlecht und Sexualität[8], die Destabilisierung des Binarismus von Hetero- und Homosexualität sowie die Anerkennung eines sexuellen Pluralismus, der neben schwuler und lesbischer Sexualität auch Bisexualität, Transsexualität und Sadomasochismus einbezieht” (ebd.: 18)[9]. „Queer” stellt jedoch keine empirische Beschreibung einer emanzipatorischen Lebenspraxis dar[10]. Das scheinen manche Konstruktivisten zu vergessen, die gewisse urbane Lebensstile für die ganze Wahrheit halten bzw. den poststrukturalistischen Diskurs mit der Wirklichkeit der Subjekte in der globalisierten Welt gleichsetzen[11]. Die Beurteilung solcher Phänomene ist deshalb schwierig, weil einerseits manchmal in der Tat „Minderheiten und Außenseiterkulturen […] unerkannt eine Pionierfunktion für die Gesellschaft im Ganzen übernommen” (Reiche 2003) haben und insofern Indikatoren für zukünftige Entwicklungen der Mehrheitskultur darstellen[12]. Andererseits werden sie in dieser Hinsicht aber auch oft überschätzt: Manche „Avantgarden” erweisen sich als vergänglich und nicht selten passen sich Minderheiten der Mehrheit an. Oft handelt es sich um eine doppelte Bewegung, was etwa im Hinblick auf das Phänomen Homosexualität bedeutet, dass es sowohl zu einer Homosexualisierung der Heterosexualität als auch zu einer Heterosexualisierung der Homosexualität (Partnerschaftsgesetz, das Aufgeben und die Verleugnung von Differenzen zur Heterosexualität) kam.

Gesellschaftliche Entwicklungen und erst recht die sie sowohl reflektierenden als auch von ihnen bewirkten Diskurse sind nie gradlinig, sondern stets widersprüchlich. Sie verlaufen dialektisch, gleichzeitig in großen Sprüngen und im Schneckentempo oder auch im Krebsgang. Diskurse bleiben noch lange nach ihrem manifesten Verschwinden im individuellen und kollektiven Gedächtnis wirkmächtig. Die jeweils gegenwärtigen Diskursivierungen stellen gegenüber den tief in die Psyche der Subjekte eingesunkenen vergangenen Diskursen sozusagen die Spitze des Eisberges dar.

Wie sich diese Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem hinsichtlich der Geschlechterdifferenz und des Diskurses über Geschlecht manifestiert, sei in vier Punkten nur beispielhaft angedeutet:

Trotz vieler in den westlichen Industrienationen erkämpfter Fortschritte besteht die gesellschaftliche Ungleichbehandlung von Männern und Frauen fort. Die soziale Disparität der Geschlechter ist keineswegs abgetragen, auch wenn sie heute kaum mehr mit geschlechtsspezifischen Wesenszuschreibungen legitimiert wird. Biologisch begründete geschlechtsspezifische Wesenszuschreibungen haben weitgehend an Gültigkeit verloren, dennoch bleibt der Geschlechtsunterschied relevant. Die kollektiven Phantasmen über die Geschlechterdifferenz haben sich in den letzten Jahrzehnten massiv verändert, was dazu geführt hat, dass innerhalb der beiden Geschlechter eine größere Vielfalt von Geschlechtsidentitäts-Versionen gesellschaftlich „zugelassen” ist. Gleichzeitig sind die alten Phantasmen der radikalen Geschlechterdichotomisierung auch noch wirksam. Das lässt sich z. B. daran ablesen, wie in der gegenwärtigen deutschen Diskussion über die bedrohte Rentensicherheit der „Geburtenrückgang” einseitig den Frauen angelastet wird. Vergleichbares trifft auf die „Zuständigkeit” für die Erziehung von Kindern zu. Der Hausmann ist auch in fortschrittlichen Kreisen immer noch verdächtig, weil Fürsorglichkeit nach wie vor als genuin weiblich gilt. Auch die gegenseitigen Projektionen von Frauen und Männern (was Frauen denken, wie Männer seien, und vice versa) sind nach wie vor zutiefst von dichotomen Vorstellungen geprägt, auch wenn sich Frauen und Männer heute mehr Eigenschaften des eigenen Geschlechts beim anderen Geschlecht wünschen als früher. Mit der Dekonstruktion des geschlechtlichen Subjekts wurde auch das Subjekt als solches abgeschafft. Gleichzeitig werden die entsubjektivierten Subjekte im Zeitalter der Globalisierung in einem ungeheuren Maße auf sich selbst als Vereinzelte zurückgeworfen: Jeder soll sich bis zur depressiven Erschöpfung selbst verwirklichen, er selbst sein (vgl. Ehrenberg 1998). Der poststrukturalistische Diskurs hat die Geschlechterdifferenz völlig entkörperlicht13. Übrig geblieben sind nur Sprache, Diskurs, symbolische Konstruktion und „doing gender”, also Darstellung, Inszenierung, Performance des Geschlechts. Gleichzeitig erleben wir seit einigen Jahren eine machtvolle Rebiologisierung des Subjektkonzepts und damit einhergehend der Geschlechterdifferenz und des Begehrens14. Nun sind es nicht mehr die Keimdrüsen, die kausal verantwortlich für den Willen der Subjekte und für ihre geschlechtliche „Programmierung” sein sollen, sondern „Gene”, die die gesamte Evolution gespeichert in sich tragen, und das abbildbare „Gehirn”. Von Gewalttätigkeit bis Untreue lässt sich somit alles mit der Evolution und mit dem „strukturellen Geschlechtsdimorphismus des Gehirns” (Holterhus 2004: 88) erklären15. So fern der Neobiologismus und der poststrukturalistische Genderdiskurs einander auch sein mögen, so nah sind sie sich in der Abschaffung des Eigensinns der Subjekte.

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1 Mit dieser Begründung lehnte der Bundesgerichtshof seinerzeit die Personenstandsänderung von Transsexuellen ab. Gegen das Urteil wurde Verfassungsbeschwerde eingelegt, der das Bundesverfassungsgericht 1978 stattgab. Nach dieser Entscheidung wurde das Transsexuellengesetz (TSG) geschaffen, das 1981 in Kraft trat.

2 Neue Gesellschaft für Bildende Kunst, 17. Juni bis 31. Juli 2005 (NGBK 2005).

3 „Intersexuell” nennt man Menschen, deren somatische Geschlechtsmerkmale nicht eindeutig bzw. nicht einheitlich männlich oder weiblich ausgeprägt sind. Dies kann die äußeren oder inneren Genitalien oder den Chromosomensatz betreffen.

4 Verursacht wird diese Traumatisierung durch Operationen ohne Aufklärung, aber auch durch Unterlassung von medizinischen Behandlungen, „halbe” Operationen (z. B. Klitoridektomie ohne Herstellung einer Vagina) und last not least durch übergriffige Untersuchungen (z. B. wiederholte Untersuchungen am Genitale im Kindesalter), entwürdigendes Erforschen und Zur-Schau-Stellen.

5 Gefordert wird unter anderem ein Verzicht auf frühe operative Eingriffe zur Herstellung eines eindeutigen Geschlechts. Die Subjekte sollen später, wenn sie älter sind, selber entscheiden können, welches Geschlecht sie annehmen möchten.

6 Mit dieser Bezeichnung bzw. mit der Bezeichnung „Geschlechterkonstruktivismus” fasse ich im Folgenden die auf die Dekonstruktion der Zweigeschlechtlichkeit abzielenden Debatten soziologischer (interaktionstheoretisch-ethnomethodologischer) und philosophischer (diskurstheoretischer) Provenienz zusammen. Der soziologische Ansatz baut im Wesentlichen auf den Arbeiten von Garfinkel (1967) und Goffmann (1977) auf; für den diskurstheoretischen Ansatz steht vor allem Butler (1991, 1997), die an Foucault (1977) anknüpft. Beide Ansätze betonen, dass Geschlecht durch sich wiederholende situative Akte inszeniert und dadurch hergestellt werde, also primär in den Akten liege („Performativität des Geschlechts” bei Butler; „doing gender” bei West und Zimmerman 1987). Trotz Butlers gelegentlicher, eklektizistischer Anleihen bei der Psychoanalyse interessiert sie sich letztlich ebenso wenig wie der soziologische Ansatz für das Empfinden und die Intentionen der Geschlechtsakteure, sondern nur für ihr „Tun”. Dazu sagt sie: „Meine These ist dagegen, dass es keinen ‚Täter hinter der Tat’ gibt, sondern dass der Täter in unbeständiger, veränderlicher Form erst in und durch die Tat hervorgebracht wird” (Butler 1991: 209). Da es mir um die generelle Tendenz dieser Debatten geht, werde ich auf weitere unterschiedliche Akzentuierungen innerhalb dieser Diskurse nicht eingehen.

7 So distanziert sich etwa Hirschauer (2004: 15) vom politischen „Freiheitsversprechen” Butlers, um wenig später sein eigenes, wenn auch bescheidener „kleine Freiheiten” (ebd.: 38) genanntes Versprechen im „undoing gender” zu formulieren.

8 Zur kontroversen Diskussion dieses Programmpunktes vgl. Dannecker 2004

9 Was „Anerkennung” außer einer wenig differenzierenden Ablehnung jeglichen psychodynamischen Verständnisses (etwa der Bedeutung der Aggression für Masochismus und Sadismus) als „Pathologisierung” (vgl. Rubin 2003: 40 f) wirklich heißt, ist bislang wenig deutlich geworden.

10 Die „subversive”, die heterosexistische Macht „durchkreuzende” Bedeutung, die Butler der Travestie („drag”) beimisst, liegt nicht in einem emanzipativen Akt der Travestierenden, sondern in deren durch parodierende Imitation bewirkten Bloßstellung der heterosexuellen Identität als Illusion, als „Effekt der Travestie” (Butler 2003: 167), „als unaufhörliche und überstürzte Imitation ihrer eigenen naturalisierten Idealisierung” (ebd.: 158).

11 „Die Schwierigkeit, die produktiven Aspekte der Grundlagenkritik vom Überschwang postistischer Konjunkturen zu scheiden, zutreffende Beobachtungen von Phänomenen des sozialen Wandels und überzogene Tendenzaussagen gesellschaftlicher Transformation auseinander zu halten, hängt mit der spezifischen Komposition dieses Diskurses zusammen” (Knapp 2001: 54).

12 Reiche beschreibt unter dem Stichwort „Homosexualisierung der Gesellschaft” eine Reihe von Veränderungen der Heterosexualität: die Umstellung von Stabilität auf Mobilität, die Ablösung der Monogamie durch sequenzielle Monogamie, die Zunahme der Kinderlosigkeit etc.

13 Butler hat die Aberkennung jeglicher Materialität des Körpers diesseits seiner Diskursivierung gelegentlich relativiert bzw. als Missverständnis ihrer LeserInnen deklariert (z. B. 1997: 102), um sie an anderer Stelle, zum Teil sogar im gleichen Text, wieder zu bekräftigen (z. B. 1997: 103). Hierin zeigen sich, wie Geller (2005) detailliert nachgewiesen hat, Konsistenzprobleme ihrer Philosophie. Letztlich setzt Butler Sprache und Körper/Materie immer wieder gleich bzw. geht „davon aus, dass durch die Begriffsbildung Materie selbst zum Begriff wird, nicht, dass sich der Mensch einen Begriff von Materie macht” (Geller 2005: 103).

14 Das berühmte Diktum von Freud, dass „auch das ausschließliche sexuelle Interesse des Mannes für das Weib ein der Aufklärung bedürftiges Problem und keine Selbstverständlichkeit, der eine im Grunde chemische Anziehung zu unterlegen ist” (Freud 1905: 44), sei, ist bis heute nicht widerlegt, das darin enthaltene Rätsel bislang nicht gelöst. Dagegen werden nach wie vor immer wieder neue biologische Ursachen der männlichen Homosexualität behauptet - zuletzt das „schwule Gen” oder ein bestimmter Teil im Gehirn, der bei homosexuellen Männern dem der Frauen ähnlich sei (Übersicht zu diesen Forschungen bei LeVay und Hamer 1994; kritische Bewertung bei Stein 1999). Obwohl diese Studien gravierende methodische Mängel aufweisen und ihre Behauptungen Nachuntersuchungen nicht (bzw. nur „zu 50 %”) standgehalten haben, ist zu erwarten, dass sie demnächst in die pränatale Selektionsdiagnostik eingehen werden (zu diesem Problem vgl. Dannecker 2002).

15 Zum „Kategorienfehler” der Hirnforschung und anderer neobiologistischer Konstruktionen vgl. Röttgers (2005) sowie Velden (2005).

16 Das hatte auch produktive Folgen für die Männerforschung, wie u. a. der interessante Ansatz von Connell (1995) zur Differenzierung von Männlichkeiten zeigt.

17 Mein eigener grundsätzlicher Standpunkt zum Verhältnis von Erbe und Umwelt (der sich mehr für die spezifische Interaktion als für das Entweder-oder interessiert) lässt sich am besten durch ein Zitat von Winnicott ausdrücken: „Säuglinge beginnen auf verschiedene Weise zu sein, je nachdem, ob die Bedingungen günstig oder ungünstig sind. Zugleich bestimmen die Bedingungen nicht das Potential des Säuglings. Dieses ist ererbt, und es ist legitim, dieses ererbte Potential des Individuums als eigene Frage zu untersuchen, immer vorausgesetzt, man ist sich darüber einig, dass das ererbte Potenzial eines Säuglings kein Säugling werden kann, wenn es nicht mit mütterlicher Fürsorge zusammengebracht wird” (1965: 55).

18 „Zu den Binsenweisheiten der Soziologie gehört der Nachweis der ‚Homogamie’ […]. Wahrlich staunenswert ist nun, dass diese Paarungsneigung vor der gleichen Geschlechtszugehörigkeit Halt macht: dass Gesellschaft also bevorzugt jene Personen in sexuellen Kontakt […] bringt, die ihr Begehren wechselseitig nicht verstehen” (Hirschauer 2004: 20).

19 Homosexuellen Beziehungen per se eine größere Freiheit im Changieren zwischen den Geschlechtern zu unterstellen, ist Ausdruck einer Idealisierung als Gegenentwurf zur Diskriminierung, folgt also ähnlichen Mechanismen wie die Remythologisierungen im feministischen Diskurs. Castendyk (2005) hat das am Beispiel von Morgenthalers Konstruktion des nicht neurotischen männlichen Homosexuellen überzeugend dargestellt.

20 So habe er z. B. über einen Intersexuellen ohne männliche Genitalien, der als Mann lebte und in seinem sozialen Umfeld selbstverständlich als solcher betrachtet wurde, mit der neuen Terminologie schreiben können, „dass er, im großen und ganzen, in der ‚gender role’ eines Mannes lebte, jedoch in der spezifischen genitalen und erotischen ‚sex role’ eines Mannes behindert war” (Money 1994: 22).

21 Reiche (1997) hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Auffassungen des explizit die Psychoanalyse ablehnenden, verhaltenswissenschaftlich orientierten Sexologen Money über Geschlecht und Geschlechtsidentität insgesamt kompatibler mit der Psychoanalyse sind als die Thesen des Psychoanalytikers Stoller, dessen Theorien viel mehr unhinterfragte verhaltenspsychologische Versatzstücke („Prägung” etc.) enthalten.

22 Dass Money einst von prominenten Feministinnen wie Alice Schwarzer oder Kate Millett als radikaler Geschlechterkonstruktivist gefeiert wurde, wird seinem Werk ebenso wenig gerecht wie die Tatsache, dass er seit einigen Jahren (nachdem der tragische Verlauf der Lebensgeschichte des von Money behandelten Bruce/Brenda/David Reimer bekannt wurde) als solcher verteufelt wird (vgl. Money 1998: 297 ff; Colapinto 2000; Schmidt 2000).

23 Der Diskurs selbst scheint das einzig verbliebene Subjekt zu sein, wovon der bemerkenswerte Satz von Butler (1998: 102) zeugt: „wenn ein Text einmal handelt, kann er wieder handeln”.

24 Innerpsychische Konflikte haben innerhalb des poststrukturalistischen Genderdiskurses allerdings ebenso wenig Raum wie das Unbewusste (vgl. Flaake 2000).

25 Dagegen bleibt die Überwindung der biologisch gegebenen Körperlichkeit im Cyberspace auf der Ebene der Fantasie.

26 Wie diese gegenseitigen Verschränkungen im Einzelnen zu interpretieren sind, ist Gegenstand zahlreicher Kontroversen (vgl. Becker 2002, 2005).

27 Die Trauer über die verlorene bisexuelle Omnipotenz lässt eine Vielfalt von Geschlechtspositionen bzw. die „stumme bisexuelle Potenz” zu.

Dr. phil. S: Becker

Sexualmedizinische Ambulanz
Klinikum der Universität

Theodor-Stern-Kai 7

60590 Frankfurt/Main

Email: sophinette.becker@em.uni-frankfurt.de

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