B&G Bewegungstherapie und Gesundheitssport 2007; 23(3): 123-125
DOI: 10.1055/s-2007-960545
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Fitnesslügen

G. Huber1
  • 1Universität Heidelberg, Institut für Sport und Sportwissenschaft
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Publication Date:
19 June 2007 (online)

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Der Aufbau von Körperfett - eine überlebenswichtige Gesundheitsressource

Unsere Körperfettspeicher sind der wichtigste Puffer unseres Energiestoffwechsels. Als Anpassung an stammesgeschichtliche Mangelzustände halfen sie der menschlichen Art, in Hungerzeiten zu überleben. Entgegen der allgemeinen Meinung gehen wir davon aus, dass der Fettaufbau in Phasen des Nahrungsüberschusses unsere Gesundheit schützt und hilft, zahlreiche Krankheiten zu verhindern oder zu verzögern. Erst später, wenn die Kompensationsgrenzen des Systems überschritten sind, kann übermäßiges Körperfett unseren Gefäßen schaden.

Kaum ein alltäglicher Vorgang wird so häufig und einstimmig verteufelt wie die Aufnahme von Fett mit der Nahrung. In zahlreichen Medien wird ohne Rücksicht auf die genetischen Voraussetzungen des Einzelnen „schlank” als ein Synonym für sportlich, gesund, aktiv und schön angepriesen. Der bei der Mehrzahl der Menschen vorhandene Energiespeicher um Taille und Hüfte wird dabei als prähistorisches Relikt, das wir heute nicht mehr brauchen, mehr verschmäht als geduldet. Aller Schmach und Diäten zum Trotz erfüllt dieser treue Wegbegleiter des Menschen zahlreiche Funktionen.

Wir stellen folgende Hypothese auf: Auch in Zeiten des Nahrungsüberflusses und des Bewegungsmangels schützt der Mechanismus, der diesen „Rettungsring” erzeugt, die Gesundheit seiner Besitzer - manchmal täglich.

Alle Lebensprozesse erfordern, um ihre Homöostase entgegen der Entropie aufrechterhalten zu können, einen kontinuierlichen Energieumsatz. Eine wichtige Voraussetzung allen Lebens ist daher die ständige Verfügbarkeit energiereicher Substrate, deren Umsatz die Zellmaschinerie am Laufen hält. Als Produkt seiner Stammesgeschichte, in der die für die täglichen Leistungen benötigte überlebenswichtige Nahrungsenergie nicht immer im ausreichenden Maß zur Verfügung stand, wirtschaftet der menschliche Organismus so effizient wie möglich mit dieser Ressource. Einerseits ist er bestrebt, seine Speicher in Versorgungsphasen ausreichend zu füllen, andererseits gestaltet er seine Ausgaben so sparsam wie möglich: „Spare in der Zeit, dann hast du in der Not!” [6]

Die zum Teil starken Schwankungen, denen die Nahrungszusammensetzung und -menge unterliegen konnte und kann, erfordert eine flexible, dem Angebot angepasste Umsetzung und Speicherung der verschiedenen Brennstoffe. Überschüsse einzelner Nährstoffe, die nicht sofort in Energie umgesetzt werden können, werden in Form von Glykogen und Körperfett gespeichert und nur im Ausnahmefall ungenutzt ausgeschieden. Diese Anpassungsprogramme des Menschen haben sich über Tausende von Generationen in der ständigen Auseinandersetzung mit den Anforderungen und Versorgungsverhältnissen der Umwelt für das Überleben der Art entwickelt und bewährt [43]. Sie berücksichtigen keine neuzeitlichen und - wahrscheinlich wesentlich kurzlebigeren - kulturell geprägten Schönheitsideale.

Unser Fettgewebe dient, neben anderen Funktionen, als wichtigster Puffer unserer Energieversorgung. Wie viele Wirbeltiere speichert auch der menschliche Körper bei positiver Energiebilanz die Überschüsse als Körperfett, um für eventuelle Notzeiten besser vorbereitet zu sein und länger überleben zu können [15] [16].

Dass dies den Menschen nicht gefällt, hat zum einen mit dem ästhetischen Zeitgeist zu tun, zum anderen damit, dass sie diese Speicherfunktion dramatisch überstrapazieren. Eine oft vergessene, aber in Zeiten häufigen Nahrungsüberflusses aus gesundheitlicher Sicht mindestens genau so wichtige Aufgabe unserer Fettzellen ist es, Überschüsse von Kohlenhydraten und Fett abzufangen.

Nachdem eine Mahlzeit verdaut und die Makronährstoffe im Dünndarm resorbiert wurden, gelangen die Kohlenhydrate und Aminosäuren über die Pfortader zur Leber und von dort aus ins Blut. Dem gegenüber werden die meisten Fettsäuren als Triglyzeride über die Lymphe in die Blutbahn transportiert und stehen den Körperzellen direkt als Energie zur Verfügung. Die Konzentrationen der einzelnen Nährstoffe im Blut entscheiden, einen intakten Stoffwechsel vorausgesetzt, über deren Umsatz, Speicherung oder Abgabe aus dem Speicher in die Blutbahn. Defizite müssen kompensiert werden, um die Leistungs- und Überlebensfähigkeit aufrecht zu halten. Zu hohe Konzentrationen müssen entfernt werden, damit durch den Überfluss kein Schaden entsteht.

Glukose ist unser wichtigster Brennstoff für Gehirn, Netzhaut und rote Blutkörperchen sowie bei erhöhter körperlicher Aktivität. Die Leistungsfähigkeit und die Notwendigkeit unseres Verbrennungs- und Verteilungssystems für Zucker im Blut werden klar, wenn man bedenkt, dass das Blutvolumen eines 70 kg schweren Mannes (ca. 5,5 Liter) bei normalem Blutzuckerspiegel gerade einmal 3,5 bis 5,5 g Glukose enthält.

Eine normale Mahlzeit mit 50 oder mehr Gramm Kohlenhydraten, die während des Verdauungsprozesses in Zucker gespalten werden, würde daher den Blutzuckerspiegel auf das 10-30-Fache erhöhen und beim Betroffenen über ein Überzuckerungskoma zum Tod führen, wenn der anflutende Zucker nicht sofort umgesetzt oder gespeichert würde.

Durch die zunehmende Technisierung unseres Alltags reduziert sich die körperliche Aktivität vieler Menschen auf ein Minimum [25] [39]. Dies mindert die Aufnahmegeschwindigkeit von Glukose in die Glykogenspeicher [34]. Bei gleichzeitiger Nahrungsaufnahme über den Bedarf hinaus sind unsere Glykogenspeicher bei der nächsten Mahlzeit noch nicht ausreichend entleert, um große Mengen Zucker aus dem Blut aufnehmen zu können.

In diesem heutzutage häufigen Zustand hilft der Aufbau von Körperfett auf zweierlei Arten, einen erhöhten Blutzuckerspiegel zu senken und damit unsere Gesundheit zu schützen:

Unser Organismus deckt seinen Energiebedarf abhängig von der Nahrungsaufnahme flexibel. Bei einem hohen Blutzuckerspiegel wird vermehrt Glukose verbrannt und die Fettverbrennung reduziert. Die sich durch die reduzierte Umsetzung in der Blutbahn anhäufenden überschüssigen Triglyzeride werden dort gespeichert, wo sie am wenigsten schaden: in den Fettzellen. Wenn diese Umverteilung nicht ausreicht, um einen „Zucker-Tsunami” abzufangen und der im Blut überschüssige Zucker nicht mehr verbrannt werden kann, wird er in der Leber und in den Fettzellen in speicherfähige Fette umgewandelt, die wiederum im Fettgewebe deponiert werden.

Ziel dieser Stoffwechselwege ist es, die Konzentration von Zucker im Blut schnellstmöglich auf ein optimales Niveau zwischen 60 und 100 mg pro Deziliter zu reduzieren und überschüssige Glukose aus der Blutbahn zu eliminieren [19] [36].

Je stärker diese Regulationssysteme beeinträchtigt sind und je höher der Blutzucker- oder Blutfettsäurespiegel nüchtern oder nach den Mahlzeiten ist, desto mehr kann dies unserer Gesundheit schaden, auch wenn noch kein manifester Diabetes besteht [10] [18] [37]. Es bestehen epidemiologische und pathophysiologische Verbindungen u. a. zu Diabetes [4] [38] [44], Dickdramkrebs [31], Netzhaut-, Nerven- und Nierenschäden [4] [18] [28], koronarer Herzkrankheit, Herzinfarkt und Schlaganfall [4] [10] [18] [37] [44], Alzheimer-Demenz [12], Autoimmunkrankheiten [7], beschleunigter Alterung [2] [29] [38], Durchblutungsstörungen durch die Schädigung großer und kleiner Blutgefäße [4] [18] [37] und erhöhter Sterblichkeit [18] [37].

Abhängig von der Konzentration von Zucker im Blut nehmen direkt und indirekt gefäß- und zellschädigende Effekte zu [4] [17]. Unter anderem kommt es zur vermehrten Bildung von Sauerstoffradikalen und zu nicht-enzymatischen Glykosilierungen von Proteinen in der Blutbahn und im Gewebe [4] [30]. Bei diesen ungesteuerten intra- und extrazellulären Reaktionen können die betroffenen Proteine ihre Funktion einbüßen und auf verschiedenen Stoffwechselwegen zu Zellschädigungen führen [4] [27]. Durch Interaktion mit entsprechenden Rezeptoren auf der Zelloberfläche können die AGEs (advanced glycation end products = Endprodukte der fortgeschrittenen Verzuckerung) in Blutgefäßen und zahlreichen Geweben eine vermehrte Bildung reaktiver Sauerstoffverbindungen auslösen [23] [41] und Entzündungsprozesse hervorrufen [30], die wiederum eine weitere Bildung von AGEs und deren Rezeptoren auslösen und die Entzündungsreaktionen verstärken [30] [46]. Dieser Teufelskreis ist, sobald er einmal angestoßen wurde, die Basis für funktionelle und strukturelle Störungen der Zellfunktion, aus denen die genannten Erkrankungen resultieren können [4] [30].

Auch erhöhte Blutfett- und -cholesterinwerte, die u. a. durch eine kohlenhydratreiche Kost [21] [32] oder eine Insulinresistenz [4] provoziert werden, können Blutgefäße schädigen und die genannten Krankheiten verursachen [4] [20] [24]. Vor allem glykosilierte und oxidierte Lipoproteine fördern diese Krankheitsprozesse [11] [26] [40]. Inwieweit diese Oxidation durch die reaktiven Sauerstoffverbindungen und Entzündungen verstärkt wird, die die AGE-Rezeptor-Stimulation hervorruft, bleibt zu erforschen [30]. Es gilt als gesichert, dass die Enzyme, mit denen der Organismus freie Radikale neutralisiert, durch Verzuckerung inaktiviert werden [45].

Aus den genannten Überlegungen leiten wir die Hypothese ab, dass sich der Organismus mit dem Aufbau von Körperfett - als physiologisches Anpassungsverhalten an eine Umweltsituation mit starken Schwankungen der Energiezufuhr - vor den Schäden einer Überschwemmung mit energiereichen Substraten schützt. Zusätzlich wird eine Energiereserve für eventuelle zukünftige Notzeiten angelegt. Aufgrund dieser Vorteile verwundert es nicht, dass die natürliche Selektion den Aufbau von Körperfett als bestmögliche Anpassung hervorgebracht und gegen, von kulturellen Stimmungsschwankungen abhängige, Schönheitsideale verteidigt hat.

Das biologisch primäre Interesse unseres Körpers gilt nicht dem Schlanksein, sondern dem Überleben, und dazu trägt auch der oft verschmähte Fettspeicher seinen Teil bei. Die Auswirkungen von Übergewicht auf die Lebenserwartung werden kontrovers diskutiert: Während einige Autoren bei normalgewichtigen Personen die niedrigste Mortalitätsrate beschreiben, die mit zunehmendem Gewicht ansteigt [1] [5] [9], fanden andere bei Übergewichtigen (BMI 25,0-29,9 kg/m2) keine erhöhte Sterblichkeit [3] [14] [33]. Weitere Studien schrieben dem Körperfett an Bauch und Organen [22] oder einem Gewichtsverlust [9] lebensverkürzende Effekte zu oder sie konnten keinerlei Auswirkungen einer Gewichtsänderung auf die Lebenserwartung finden [13].

Der genetisch prädisponierte und verhaltensmodifizierte Weg zu Übergewicht und Adipositas besteht zwangsläufig aus zahlreichen Phasen eines Nahrungsüberschusses mit den oben beschriebenen Folgen. Wir gehen davon aus, dass das gespeicherte Fett und der gespeicherte Zucker für unsere Gefäßgesundheit und unsere Insulinsensibilität wesentlich weniger schädlich sind als deren erhöhte Konzentration im Blut [4] [24]. Daher denken wir, dass Übergewicht und Adipositas als Phänomene der Kompensation eines überforderten Energiestoffwechsels zwar mit zahlreichen Zivilisationskrankheiten und pathophysiologischen Abläufen [4] [42] korrelieren, diese jedoch primär hemmen. Was kann der Organismus im Falle eines Überflusses sinnvolleres tun, als potenziell schädliche Stoffe schnellst möglich aus dem Kreislauf zu eliminieren und damit eine sofortige Schädigung zu minimieren? Erst später, wenn die Kompensationsgrenzen des Systems überschritten sind oder die vergrößerten Fettspeicher an Bauch und Organen unter bestimmten Bedingungen vermehrt freie Fettsäuren zurück ins Blut abgeben, schadet dieses übermäßige Körperfett der Gesundheit unserer Gefäße.

Entgegen anderer Forscher beurteilen wir daher den Aufbau von Körperfett [6] oder die bei starken Zuckerüberschüssen auftretende Umwandlung von Glukose in Fettsäuren [21] [36] nicht nur als atherogene und pathogene Prozesse, sondern sehen darin auch einen Schutzmechanismus, um die oben beschriebene Gefäß- und Gewebsschädigung im ersten Moment aufzufangen und zu dämpfen.

Es bleibt zu klären, unter welchen Umständen die Regulation der Energiehomöostase unseres Organismus und damit die Konzentration der einzelnen Brennstoffe im Blut aus den Fugen gerät und wie die genetische Disposition, das Verhalten und die Umwelt als Einflussgrößen auf die individuellen Kompensationsgrenzen dieses Systems, auch in Bezug auf Krankheitsprozesse, zu gewichten sind.

Es ist unstrittig, dass dieser Prozess unmittelbar mit dem Energieverbrauch durch Bewegung verbunden ist. Die Aufnahme und Aufrechterhaltung von regelmäßiger körperlicher Aktivität kann diesem wichtigen Prozess des Aufbaus von Körperfett seine gesundheitlich positiven Potenziale wiedergeben.

Literatur

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Dr. T. Kaufmann
Prof. Dr. G. Huber

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