Senologie - Zeitschrift für Mammadiagnostik und -therapie 2006; 3(4): 220-222
DOI: 10.1055/s-2006-971071
Aktuell diskutiert

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Komplementäre Medizin und Schulmedizin - brauchen wir einen Paradigmenwechsel?

J. Hübner
Further Information

Publication History

Publication Date:
16 February 2007 (online)

 

Jeder in der Onkologie tätige Arzt kennt die Frage der Patienten "Was kann ich sonst noch tun?". Wirklich fundierte Erkenntnisse fehlen meist. Der Wunsch, zumindest im Rahmen eines psychoonkologischen empathischen Ansatzes dem Patienten eine Antwort zu geben, führt zu keiner inhaltlich befriedigenden Lösung.

Fakt ist, dass ein hoher Anteil unserer Patienten komplementäre Therapieansätze parallel zur sogenannten Schulmedizin verfolgt. Spätestens mit Erscheinen der ersten Hinweise auf Wechselwirkungen von Johanniskrautpräparaten mit Chemotherapeutika dürfte jedem klar sein, dass hier eine Aufgabe vor uns liegt, die aufgrund mangelnder Publikationen und Daten derzeit kaum zu bewältigen ist. Hinzu kommen Berichte von Nebenwirkungen und Wechselwirkungen, die die allgemeine Annahme der "Harmlosigkeit" von z.B. pflanzenheilkundlichen Präparaten widerlegen.

Komplementäre Onkologie wird häufig mit Naturheilkunde und Erfahrungsheilkunde gleichgesetzt. Assoziationen sind "natürliche Substanzen", "entstammt langjähriger Erfahrung", "hat keine Nebenwirkungen", "sichere, sanfte Medizin", "berücksichtigt die Einheit von Körper und Seele" ... Schulmedizin dagegen sei "destruktiv", "zerstört die körpereigenen Kräfte".

Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass bei der Beurteilung der Komplementärmedizin nicht die gleichen strengen Maßstäbe wie bei der Beurteilung der Schulmedizin angelegt werden können und müssen. Zumindest wenn es um die Anwendungen von Substanzen geht (Beispiele sind Phytotherapie (europäische, chinesische, ayurvedische ...), Homöopathie, Nahrungsergänzungsmittel und orthomolekulare Medizin und weitere Substanzen wie Enzyme und Misteltherapie), sind Wirksamkeiten ebenso wie Neben- und Wechselwirkungen erfassbar, messbar und in Qualität und Quantität darstellbar. Überprüfungen sogenannter "transzendenter" Verfahren wie Geistheilung, Handauflegen und Gebete sind in Analogien zu Verfahren der Psychologie denkbar.

Bei der Evidenz-basierten Beurteilung komplementärmedizinischer Onkologie bestehen grundlegende Probleme. Phytotherapeutika stellen Vielstoffgemische mit evtl. stark schwankender Zusammensetzung dar. Die entscheidenden Inhaltsstoffe sind in einigen Fällen nicht ausreichend charakterisiert und die präklinischen Daten sind oft lückenhaft bis fehlend. Daten aus Phase-I-Studien liegen selten vor. Die Finanzierung wissenschaftlicher Arbeiten gelingt nicht in einem Ausmaß, dass es für systematische Erforschung ausreicht. Bisher fehlt es an Erfahrung mit passenden Studiendesigns, und die Akzeptanz der Regeln wissenschaftlicher Arbeit war bisher nicht einheitlich gegeben. Deshalb war bei den bisher initiierten Studien die Zahl der teilnehmenden Zentren oft gering und die Rekrutierung meist ungenügend. Es gelang keine Bündelung der Aktivitäten.

Einige Fragestellungen, die in der Onkologie bedeutsam sind:

Welches Wechselwirkungspotenzial besteht - müssen wir beim Einsatz bestimmter Präparate mit Wirkungsabschwächungen oder -verstärkungen rechnen? Welche Dosierungen sind sicher? Beispiele: Vitamine, Spurenelemente und andere Antioxidanzien während einer Chemotherapie oder Radiatio, die über Radikalbildung wirkt (Abb. 1), Beeinflussung des Metabolismus von Medikamenten, Phytoöstrogenen und anderen Substanzen, die am Östrogenrezeptor binden (Abb. 2) während einer antihormonellen Therapie. Abb. 1 Beispiele für Beeinflussung des Cytochrom P 450 Stoffwechsels Abb. 2 Phytotherapeutika und Nahrungsstoffe mit Wirkung am Östrogenrezeptor Können wir Nebenwirkungen der Chemotherapie beeinflussen (positiv oder negativ)? Besteht dabei die Gefahr der Wirkungsabschwächung? Lässt sich das Ergebnis der onkologischen Therapie direkt oder indirekt (Erhöhung der Compliance) verbessern?

Mit der Entwicklung der onkologischen Therapiemöglichkeiten tauchen neue Fragestellungen auf:

Wie beeinflussen sich Immuntherapien und die das Immunsystem beeinflussenden komplementären Verfahren (Mistel, Thymus ...)? Sekundäre Pflanzenstoffe beeinflussen Zellstrukturen, die im Rahmen moderner targeted therapies wichtig werden (Abb. 3). Tritt hierdurch eine Beeinflussung auf und wenn ja welche? Auch wenn einzelne sekundäre Pflanzenstoffe vermutlich nicht in relevante Dosisbereiche kommen, was gilt für Kombinationen? Abb. 3 Zellzyklus

Die Prävalenz des Gebrauchs von Nahrungsergänzungsmitteln und komplementären Präparaten ist zumindest bei Patienten außerhalb von Studien hoch. Wir müssen diskutieren, ob die Beeinflussung von Studienergebnissen möglich ist, wenn viele Probanden dies tun.

Es ist denkbar, dass in einer Phase-II-Studie, die zur Einführung eines neuen Präparates oder einer neuen Indikation dient, für bestimmte Endpunkte eine vielleicht knappe Signifikanz nicht mehr erreicht wird, oder das Ergebnis einer Phase-III-Studie beeinflusst wird, wenn nur die Medikation des einen Studienarmes tangiert wird.

Während in einer Studie die Compliance der Patienten bekannt und relativ hoch ist, gilt dies für die Situation der regulären Therapie nicht. Insbesondere langfristige orale Medikationen (wie z.B. die antihormonelle Therapie) sind problematisch. Sollte es gelingen, Elemente der komplementären Therapie so weit zu evaluieren, dass ihr gezielter Einsatz zur Abschwächung von Nebenwirkungen möglich ist, so könnte ein Beitrag zum Therapieerfolg geleistet werden.

Wir möchten die Umsetzbarkeit von Studienprotokollen im Behandlungsalltag verbessern, indem wir gezielt komplementäre Maßnahmen mit der Studie entwickeln, die Nebenwirkungen abschwächen (z.B. Medikamente gegen die Nebenwirkungen der antihormonellen Therapie oder die Kardiotoxizität von Trastuzumab in der Adjuvans).

Um in dieser Situation über das Stadium der Literatursichtung und -bewertung hinaus zu gelangen, hat sich unsere interdisziplinäre Gruppe gebildet, die sich die Aufgabe stellt, ein Konzept zur systematischen Erforschung der komplementären Methoden in der Onkologie zu entwickeln und in die wissenschaftlichen Studienlandschaft einzugliedern.

Das Angebot unseres Arbeitskreises für Studiengruppen umfasst folgende Punkte:

Auf Wunsch Erarbeitung eines Bogens zur Erfassung des Gebrauchs von komplementären Verfahren durch die Probanden. Kurzfristiger Interaktionscheck der Studienmedikation, Beratung der Gruppe, Erarbeitung einer Information für Prüfärzte und Patienten. Darüber hinaus wollen wir zur gezielten Erforschung von komplementärmedizinischen Verfahren beitragen im Bewusstsein, dass hierfür kaum finanzielle Mittel zur Verfügung stehen. Deshalb ist unser Vorschlag, bei Phase-III-Studien und geeigneten Phase-II-Studien in Form eines 2 x 2-Designs, eine komplementärmedizinische Fragestellung anzubieten, für die eine Untergruppe der Patienten randomisiert werden kann. Die Abstimmung beider Fragestellungen wird es ermöglichen, die für die Primärstudie erforderlichen Daten ohne Erweiterung zu nutzen. Der Arbeitskreis wird für die Studien neben der Fragestellung die begründende wissenschaftliche Literatur und den entsprechenden Ausschnitt des Studienprotokolls inklusive der Probandeninformation zusammenstellen. Hierbei werden wir das Design so wählen, dass das Problem der fehlenden Patientenakzeptanz der Randomisierung möglichst umgangen wird (hierzu könnten Empfehlung einer komplementären Therapie für alle Probanden nach Abschluss der sensibeln Studienphase, Einsatz von sicher nicht interagierenden/wirksamen Substanzen mit hoher Akzeptanz bei Laien (z.B. Vitamin E bei Hitzewallungen) gehören).

Aus diesem Konzept ergeben sich für alle Beteiligten Vorteile. Für die wissenschaftliche Gemeinschaft bedeutet es, dass wir erstmals in der Lage sein werden, zügig und in großem Umfang Daten zu komplementärmedizinischen Fragestellungen zu generieren und damit unseren Patienten in Zukunft fundierte Antworten auf ihre Fragen zu geben. Für Studien ausrichtende Studiengruppen bietet sich die Chance, mögliche Fallstricke frühzeitig zu eliminieren.

Für Patienten wird die Teilnahme an Studien attraktiver, sie müssen auch als Teilnehmer einer Studie nicht auf naturheilkundliche Ansätze verzichten. Die Akzeptanz von Studien könnte bei den die Patienten begleitenden Ärzten und insbesondere Hausärzten steigen. Für die forschende Pharmaindustrie ist dieses Studiendesign interessant, um Studienergebnisse klarer herauszuarbeiten, die Attraktivität für Studien auf der Patientenseite und das Image der Pharmaforschung insgesamt zu erhöhen.