psychoneuro 2006; 32(11): 515
DOI: 10.1055/s-2006-956999
Im Gespräch

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Interview mit Dr. Matthias Dobmeier, Cham - Richtschnur, die die klinische Erfahrung nicht ersetzen kann

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Publikationsdatum:
12. Dezember 2006 (online)

 
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    Matthias Dobmeier

    Mit den britischen Therapieleitlinien des National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE) liegen jetzt aktuellste Empfehlungen für die Behandlung bipolarer Erkrankungen vor. Zur Relevanz von NICE sowie den anderen Leitlinien in der Praxis nahm Dr. Matthias Dobmeier, Cham, Stellung.

    Die NICE-Guidelines gelten weltweit als die restriktivsten Therapierichtlinien. Kann man diese Empfehlungen in der täglichen Praxis umsetzen?

    Dobmeier: Die NICE-Guidelines orientieren sich stark an evidenzbasierten Erkenntnissen. Die Empfehlungen sind daher wissenschaftlich sehr gut validiert, andererseits wird damit auch ein Teil der klinischen Wirklichkeit ausgeblendet. Dadurch kann der Eindruck entstehen, dass die Empfehlungen zu restriktiv sind. Grundsätzlich sollte man NICE wie auch die anderen Empfehlungen als Richtschnur ansehen, die aber die klinischen Erfahrungen nicht ersetzen kann.

    Mir gefällt an den NICE-Guidelines, dass sie teilweise sehr ausführliche Handlungsanweisungen geben. Sie sagen zum Beispiel, dass man bereits bei der Wahl der Medikation in der Akuttherapie die weiterfolgende Behandlung berücksichtigen sollte.

    Was mir jedoch fehlt, ist beispielsweise ein Hinweis darauf, dass die Wirkung von einigen Neuroleptika durch Nikotin beeinträchtigt wird und bei der Dosierung berücksichtigt werden muss. Auch der Hinweis, dass für die Gabe von Valproat erst ab einer Dosis von 45 mg/kg Körpergewicht - das entspricht bei 80 kg Körpergewicht einer beachtlichen Dosis von 3600 mg! - ein sorgfältiges Monitoring empfohlen wird, ist zu großzügig.

    Die Akuttherapie manischer Episoden gilt als eine der letzten Domänen von Haloperidol als dem meist zitierten Vertreter der klassischen Neuroleptika. Was rät NICE?

    Dobmeier: Eine akute Manie lässt sich natürlich auch mit Haloperidol erfolgreich behandeln. Aber man muss in der Folgezeit mit einigen Problemen rechnen. Denn gerade dann, wenn sich der Patient beruhigt hat und eine Deeskalation der Situation eingetreten ist, treten oft extrapyramidalmotorische Symptome (EPS) und kognitive Einschränkungen auf. Das sind schlechte Voraussetzungen für eine nachfolgende Phasenprophylaxe. Ich finde es daher sehr erfreulich, dass die NICE-Empfehlung klar zugunsten der modernen Neuroleptika geht.

    Bei der Langzeittherapie und Phasenprophylaxe nach Ansprechen in der Manie sind sich die internationalen Leitlinien ungeachtet nationaler Therapietraditionen sehr einig.

    Dobmeier: Ja, neben den älteren Stimmungsstabilisierern Lithium und Valproat wird dem modernen Stimmungsstabilisierer Olanzapin die beste Datenlage und höchste medizinische Evidenz attestiert und als ein Mittel der ersten Wahl empfohlen.

    Die NICE-Guidelines geben sehr ausführliche Hinweise zur Anwendung von Lithium.

    Dobmeier: Ich begrüße es sehr, dass NICE hier so ausführlich Stellung nimmt. Lithium ist ein sehr gutes Medikament, hat aber eine sehr geringe therapeutische Breite und benötigt dementsprechend ein enges Monitoring. Arzt und Patient müssen sich der Behandlungsrisiken bewusst sein. Ist der Patient noch bei anderen (nicht-psychiatrischen) Ärzten in Behandlung, muss er von sich aus darauf hinweisen, dass er Lithium einnimmt, damit zum Beispiel regelmäßig die Nieren- und Schilddrüsenfunktion überprüft werden kann, um Folgeschäden zu vermeiden.

    Haben Sie den Eindruck, dass hier in der Praxis Defizite bestehen?

    Dobmeier: Ja. Ein Lithiumpatient braucht einen Medikamenten-Pass, in dem alle seine Medikamente aufgeführt sind. Beispielsweise interagieren fast alle Antihypertensiva mit Lithium. Derartige Risiken kann man nur mit einem Medikamentenpass vermeiden. Leider wird dies in der Praxis nur sehr selten beherzigt. Darauf sollten die Fachgesellschaften und die Therapieempfehlungen verstärkt hinweisen.

    Explizite Therapieempfehlungen für die Akuttherapie und Phasenprophylaxe von Patienten mit Mischzuständen sind rar.

    Dobmeier: Diese Patienten wurden in der Vergangenheit in kontrollierten klinischen Studien kaum berücksichtigt. Dementsprechend findet man in den NICE-Guidelines dazu sehr wenig. Etwas ausführlicher äußern sich das Texas Medical Algorithm Project oder die Therapieempfehlungen des Canadian Network for Mood and Anxiety Treatment (CANMAT). Insgesamt brauchen wir jedoch mehr Daten zu dieser Subpopulation bipolarer Patienten.

    Laut CANMAT sollte man bei Mischzuständen auf den Einsatz von Antidepressiva möglichst verzichten, auch um keine Phasenakzeleration bis hin zu einem Rapid Cycling zu provozieren. Darüber hinaus sollte man schneller kombinieren als in einer rein manischen oder depressiven Phase. Als Kombinationspartner sollten Valproat oder Lamotrigin, je nach klinischer Ausprägung, zusammen mit Atypika angewandt werden. Die meisten Daten zur Wirksamkeit der Atypika liegen hier für Olanzapin vor. In zwei randomisierten kontrollierten Studien war die Rezidivrate niedriger als unter Plazebo bzw. Valproat.

    Herr Dr. Dobmeier, wir danken Ihnen für das Gespräch!

     
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    Matthias Dobmeier