psychoneuro 2006; 32(9): 402
DOI: 10.1055/s-2006-954417
Im Gespräch

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Interview mit Priv.-Doz. Dr. Jürgen Koehler, Hamburg - Vertrauen in die Langzeittherapie bei Multipler Sklerose

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11 October 2006 (online)

 
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    Zur Langzeittherapie der Multiplen Sklerose werden zur Basistherapie schubförmiger Verläufe der Multiplen Sklerose Interferon-Präparate und Glatirameracetat (Copaxone®) eingesetzt. Im Vergleich zu Plazebo verringert beispielsweise die tägliche Injektion von Glatirameracetat die Schubrate etwa um ein Drittel. Bisher wurden rund 90000 Patienten weltweit mit diesem Präparat behandelt. Wir sprachen jetzt mit Priv.-Doz. Dr. Jürgen Koehler, dem langjährigen Leiter der MS-Spezialambulanz der Universität Mainz, der gerade nach Hamburg gewechselt ist, über seine Erfahrungen in der Langzeittherapie.

    Viele Patienten in der Langzeittherapie setzen von sich aus, entgegen dem Rat ihrer Ärzte, ihre Medikation ab. Ist das nicht etwas kurzfristig gedacht?

    Koehler: Natürlich sind alle Therapien für eine Langzeittherapie angelegt, das heißt über Jahre. Das Problem bei der Behandlung der MS ist, dass die Patienten nicht direkt merken, ob die Therapie für sie optimal greift oder nicht. Das heißt, sie spritzen sich unter Umständen täglich, wissen aber nicht, ob diese prophylaktische Maßnahme für sie jetzt erforderlich ist oder ob ihre Erkrankung sonst genauso verlaufen würde. Dabei werden sie oft spritzenmüde. Dies liegt häufig daran, dass die Patienten über die Ergebnisse, die mit einer Langzeittherapie erreicht werden können, nicht adäquat informiert sind. Andererseits laufen kontrollierte Studien zur Behandlung der MS meist maximal zwei Jahre und was danach kommt, weiß man eigentlich nicht so genau. Die Patienten schlussfolgern daraus: Sie müssen ihre Präparate nur zwei Jahre nehmen, diese Zeit ist sicher und anschließend kann man die Medikamente absetzen. Wir haben keine Zehnjahresdaten der Evidenzklasse I, weil wir doppelblinde plazebokontrollierte Studien nicht so lange durchführen können.

    Für Copaxone können jetzt aber die ersten Zwölfjahresdaten ausgewertet werden, die prospektiv erhoben worden sind. Die Daten wurden also nicht abgefragt und die Patienten nachträglich evaluiert, sondern die Patienten von Beginn der Zulassungsstudien an und danach über die Studienphase hinaus beobachtet und halbjährlich untersucht. Dabei wurden die Ergebnisse genau dokumentiert, um zu sehen, ob die Behandlung mit Copaxone über diesen so langen Zeitraum einen Effekt hat.

    Und wie waren Ihre Erfahrungen über diesen Zeitraum?

    Koehler: Die Erfahrungen mit Copaxone waren sehr gut. Wir haben schon früher gesehen, dass sich der Effekt von Copaxone nach vier, fünf Jahren noch verstärkt, sich also nicht abschwächt. Das hat sich jetzt nach unseren Daten auch über die Studiendauer von zwölf Jahre bestätigt. Der Wirkeffekt über diese Zeit ist gut. So sind auch unsere Erfahrungen, die wir in der Uniklinik Mainz mit Copaxone gemacht haben. Die Patienten bleiben, wenn sie das Präparat über mindestens vier bis fünf Jahre nehmen, sehr stabil. Ich habe zur Zeit eine Patientin, die seit acht Jahren mit Copaxone behandelt wird. In dieser ganzen Zeit hat sie nur noch einen milden Schub entwickelt. Sie weist nach dieser Zeit noch immer einen EDSS-Wert von Null auf, ist also nach wie vor behinderungsfrei. Das sind Ergebnisse, die man gerne an die Patienten vermittelt.

    Auch unter dem Aspekt der Nebenwirkungen, die einen wichtigen Einfluss auf die Compliance haben, hat Copaxone in der Langzeitbeobachtung gut abgeschnitten. Von den ursprünglich 251 Patienten, die in die Zulassungsstudie eingeschlossen wurden, führten nach 12 Jahren noch 108 Patienten die Behandlung mit Copaxone weiter und erschienen regelmäßig zu den Kontrollen. Dies entspricht im Vergleich zu anderen Studien einer sehr niedrigen Dropoutrate über diesen langen Zeitraum. Wir haben in dieser Zeit auch keine neuen schwerwiegenden Nebenwirkungen gesehen, die ein weiterer Grund sind, warum solche Langzeiterhebungen notwendig sind. Haben die Patienten ihre Spritzenangst erst einmal überwunden, sind keine weiteren Nebenwirkungen wie z.B. grippeähnliche Symptome mehr zu erwarten.

    Ein Problem der Langzeitbehandlung von MS mit Interferonen ist die Bildung von Antikörpern. Hat man bei Copaxone, das ja ebenfalls gespritzt wird, ebenfalls Antikörper beobachtet?

    Koehler: Auch unter Copaxone hat man Antikörper nachgewiesen. Man muss aber unterscheiden zwischen den Effekten, die die Antikörper hervorrufen. Bei den Interferonen wurden so genannte neutralisierende Antikörper gefunden, die die Wirkung eines Präparates abschwächen. Dann gibt es unspezifische Antikörper, die gegen jeden fremden Stoff entstehen, der in den Körper eingebracht wird. Unter Copaxone wurden bisher nur solche unspezifischen Antikörper beobachtet, die aber keinen Einfluss auf die Wirkung des Präparates haben. Dies ist ein entscheidender Aspekt bei der Behandlung mit Copaxone: Der neutralisierende Effekt, den wir von den Interferonen kennen, insbesondere den subkutan verabreichten, tritt hier nicht auf.

    Kann man dann Patienten, die unter Interferonen neutralisierende Antikörper entwickelt haben, auf Copaxone umstellen?

    Koehler: Das ist eine klassische Switch-Situation. Wenn Patienten mit Interferonen begonnen haben, und der Effekt der Interferone greift aus welchem Grund auch immer nicht mehr, dann ist Copaxone sicherlich das Mittel der Wahl.

    Sehr geehrter Herr Priv.-Doz. Dr. Koehler, vielen Dank für das Gespräch!