Diabetologie und Stoffwechsel 2006; 1: 217-223
DOI: 10.1055/s-2006-941467
DDG Praxis-Leitlinie
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Psychosoziales und Diabetes mellitus

B. Kulzer1 , C. Albus1 , S. Herpertz1 , J. Kruse1 , K. Lange1 , F. Petrak1
  • 1Diabetes Zentrum Mergentheim, Bad Mergentheim
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Publication History

Aktualisierung 3/2006

Publication Date:
14 June 2006 (online)

Voraussetzungen und Basismaßnahmen

Bei der Diabetestherapie kommt dem Patienten die entscheidende Rolle zu, da er die wesentlichen Therapiemaßnahmen in seinem Alltag dauerhaft und eigenverantwortlich umsetzen muss. Die Prognose des Diabetes mellitus hängt wesentlich davon ab, inwieweit dies dem Betroffenen auf dem Hintergrund seines sozialen, kulturellen, familiären und beruflichen Umfeldes gelingt.

Entsprechend muss ein Diabetiker

Wissen und Fertigkeiten zur Selbstbehandlung und deren Umsetzung im Alltag erwerben; den Diabetes mellitus emotional und kognitiv akzeptieren und krankheitsbezogene Anforderungen bewältigen; Lebensgewohnheiten verändern, die einer erfolgreichen Selbstbehandlung entgegenstehen; erfolgreich mit Krisen, Problemen oder anderen Erkrankungen umgehen lernen, die den Umgang mit dem Diabetes mellitus erschweren (z. B. psychosoziale Belastungen, psychische Probleme wie Depressionen, Ängsten, Essstörungen, Abhängigkeitssyndrome).

Es gibt eine Reihe evidenzbasierter Empfehlungen, die Patienten mit Diabetes mellitus unterstützen, möglichst erfolgreich mit ihrer Therapie zurechtzukommen.

Patientenschulungen

Strukturierte Patientenschulungen sind eine unverzichtbare Therapiemaßnahme bei Menschen mit Diabetes mellitus. Durch den Erwerb von Kenntnissen und Fertigkeiten über die Erkrankung und deren Behandlung soll der Patient in die Lage versetzt werden, auf der Basis eigener Entscheidungen

  • den Diabetes bestmöglich in das eigene Leben zu integrieren,

  • akute oder langfristige negative Konsequenzen des Diabetes zu vermeiden und

  • eine hohe Lebensqualität zu erhalten.

Entsprechend ergeben sich für die Praxis folgende Empfehlungen:

  • Jeder Patient hat das Recht auf eine Diabetesschulung. Diese soll möglichst unmittelbar nach Manifestation des Diabetes angeboten werden.

  • Die Patientenschulung ist integraler Bestandteil der Behandlung und muss in enger Abstimmung mit der medikamentösen Diabetestherapie erfolgen.

  • In der Patientenschulung soll der Patient aktiv in den Schulungsprozess einbezogen werden. Neben der Vermittlung von Wissen und Fertigkeiten über den Diabetes und dessen Behandlung sollen persönliche Behandlungsziele erarbeitet und konkrete Hilfestellungen zur Verhaltensveränderung und zum Transfer der Schulungsinhalte in den Lebensalltag angeboten werden (Selbstmanagement/Empowerment).

  • Die Schulung muss die didaktischen Voraussetzungen der Patienten, den Diabetes-Typ, die Therapieform, spezielle Problemsituationen und die Prognose der Erkrankung berücksichtigen. Entsprechend dem Wissens- und Kenntnisstand sowie den Bedürfnissen der Patienten ist eine Grund-, Aufbau-, Wiederholungs- oder problemspezifische Schulung anzubieten.

  • Ein Schulungs- und Behandlungsprogramm für Typ 1 Patienten soll mindestens eine Dauer von 20 Stunden (je 45 Minuten) umfassen.

  • Bei Patienten mit Typ 2 Diabetes im mittleren Lebensalter (unter 65 Jahre), die ein hohes Risiko aufweisen, Folgeerkrankungen zu bekommen und/oder eine arterielle Hypertonie aufweisen, soll das Schulungsprogramm mindestens 20 Stunden (je 45 Minuten) umfassen.

  • Für Patienten mit Typ 2 Diabetes im höheren Lebensalter (über 65 Jahre), die ein geringes Risiko aufweisen, Folgeerkrankungen zu erleiden, soll das Schulungsprogramm mindestens 8 Stunden (je 45 Minuten) beinhalten. Die Inhalte des Schulungsprogramms müssen an das Alter der Patienten und die Prognose des Diabetes angepasst werden.

PRAXISTOOL (s. Anhang)→ Tab. [1]: Von der Deutschen Diabetes-Gesellschaft (DDG) empfohlene Inhalte eines strukturierten Schulungsprogramm für Menschen mit Typ 1 und Typ 2 Diabetes

Verhaltensmedizinische Interventionen

Verhaltensmedizinische Interventionen in der Diabetologie zielen auf eine Verbesserung der kognitiven, emotionalen und verhaltensbezogenen Fähigkeiten der Patienten, um typische Probleme im Zusammenhang mit der Erkrankung und der Diabetestherapie zu bewältigen.

Blutzucker-Wahrnehmungstraining Ca. 20 bis 30 Prozent aller Typ 1 Diabetiker sind von schweren, rezidivierenden Hypoglykämien betroffen. Bei einem größeren Teil der Patienten liegt eine gestörte Hypoglykämie-Wahrnehmung vor. Eine gestörte Hypoglykämie-Wahrnehmung kann effektiv mit einem strukturierten Blutzucker-Wahrnehmungstraining behandelt werden. Nachgewiesen ist eine verbesserte Wahrnehmung niedriger Blutglukosewerte, eine verbesserte glykämische Kontrolle, eine Reduktion schwerer Hypoglykämien und die Verringerung Hypoglykämie-bedingter Verkehrsauffälligkeiten. Patienten mit unzureichender Hypoglykämie-Wahrnehmung und schweren rezidivierenden Hypoglykämien sollte deshalb ein Blutzucker-Wahrnehmungstraining angeboten werden. Interventionen zur Stressreduktion Ein erhöhtes Ausmaß an Stress kann zu Problemen bei der Therapiedurchführung und einer schlechten glykämischen Kontrolle führen. Die Wirksamkeit von Stressreduktionsmaßnahmen zur Verbesserung der Stoffwechseleinstellung (z. B. Progressive Muskelentspannung, Biofeedback) ist trotz einzelner Wirksamkeitsnachweise nicht zweifelsfrei belegt. Interventionen zur Stressreduktion/Entspannung mit dem primären Ziel einer verbesserten Blutzuckereinstellung können deshalb für den klinischen Alltag nicht uneingeschränkt empfohlen werden. Diese Maßnahmen sind jedoch ein wirksames Verfahren im Rahmen der psychosomatischen Grundversorgung bzw. Psychotherapie. Es gibt keine Kontraindikationen für die Anwendung bei Menschen mit Diabetes mellitus. Interventionen zur Förderung der Krankheitsbewältigung Eine adäquate emotionale Krankheitsbewältigung ist eine entscheidende Voraussetzung für ein effektives Selbstbehandlungsverhalten und den langfristigen Therapieerfolg. Diabetesbezogene negative Emotionen und andere Probleme der Krankheitsbewältigung treten im Verlauf der Erkrankung häufig auf und können die glykämische Kontrolle und das Therapieverhalten negativ beeinflussen. Zur Förderung der Krankheitsbewältigung stehen eine Reihe unterschiedlicher einzel- bzw. gruppentherapeutischer Interventionen zur Verfügung. In der Mehrzahl der Studien, in denen derartige Interventionen unabhängig von Schulungen evaluiert wurden, konnte jedoch keinen signifikanten Effekt auf die glykämische Kontrolle oder die Lebensqualität nachgewiesen werden. Eine routinemäßige Anwendung psychotherapeutischer Maßnahmen zur Förderung der Krankheitsbewältigung kann deshalb nicht empfohlen werden. Bei Patienten mit schwerwiegenden Problemen der Krankheitsakzeptanz sollen im Einzelfall psychotherapeutische Interventionen zur verbesserten Krankheitsbewältigung angeboten werden, da deren Wirksamkeit bei anderen chronischen Erkrankungen (z. B. KHK, Asthma) gesichert ist. Interventionen zur Verbesserung interpersoneller Probleme Mangelnde soziale Unterstützung und interpersonelle Probleme können die Umsetzung der Therapie im Alltag erschweren und eine Barriere für eine gute Stoffwechseleinstellung darstellen. Positive soziale Unterstützung kann zu einer Verbesserung der glykämischen Kontrolle beitragen. Gruppenpsychotherapeutische Verfahren zur Verbesserung interpersoneller Probleme sind wirksam im Hinblick auf die soziale Kompetenz. Ein generell positiver Effekt auf die Stoffwechseleinstellung konnte nicht konsistent nachgewiesen werden. Psychotherapeutische Interventionen zur Verbesserung interpersoneller Probleme sind deshalb nur indiziert bei Patienten mit schwerwiegenden interpersonellen Problemen, die sich negativ auf die Diabetestherapie auswirken.

Prof. Dr. med. Werner Scherbaum, Vorsitzender der Leitlinienkommission DDG

Deutsche Diabetes-Klinik

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