ZWR - Das Deutsche Zahnärzteblatt 2006; 115(4): 121
DOI: 10.1055/s-2006-941381
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Grenzen der Selbstverantwortung

Cornelia Gins
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Publication Date:
21 April 2006 (online)

Die Zahl ist magisch: Im vergangenen Jahr sind in Deutschland erstmals weniger als 700000 Kinder geboren worden. Bedenkt man, dass es direkt nach dem ersten Weltkrieg noch 920000 waren, erscheint die Zahl zwar beängstigend, doch handelt es sich hier nicht um ein plötzliches Geschehen: Dieser Prozess ist über die Jahre schleichend linear gewesen. Selbst wenn es pro Frau

2 Kinder statt 1,3 Kinder geben würde, würde die Schrumpfung erst 2050, wenn nicht sogar erst 2060 gestoppt. Diese Tatsache ist in keiner Weise unbekannt. Die Politik versucht seit Jahren, diesen Trend durch staatliche Maßnahmen aufzuhalten. Doch gebracht hat dies alles bis jetzt nicht sehr viel. Mit Kindergeld, Erziehungsgeld, Eltergeld, Mutterschutz und Erziehungsurlaub liegen die Förderungen bei weit über 100 Mrd. Euro. Vielleicht wären die Geburtenzahlen ohne diese Mittel sogar noch niedriger. Seit Jahren wird versucht zu ergründen, warum trotz eines doch recht guten Lebensstandards die Lust auf Kinder so gering ist. Viele scheuen wohl das finanzielle Risiko, oder man fühlt sich paradoxerweise in einer überalternden Gesellschaft zu jung. Verunsicherung, Angst und Egoismus sind offensichtlich mit Geld nicht aus der Welt zu schaffen.

Nicht nur, dass die Geburtenzahlen rückläufig sind, es verändert sich auch das soziale Umfeld, in das die Kinder geboren werden. Der Paritätische Wohlfahrtsverband rechnet damit, dass von 15,2 Mio. Kindern in Deutschland 1,5 bis 1,7 Mio. auf Hartz-IV-Niveau leben, in Berlin sind es etwa 29,9 %. In den 50er- und 60er-Jahren unterlag die Gesundheitsvorsorge noch der staatlichen Aufsicht. Mangelernährung und Infektionskrankheiten wurden durch Reihenuntersuchungen, Schulmilch, Impfprogramme und Landesverschickung vor allem unter Mithilfe der Lehrer- und Hausarztautoritäten bekämpft. Vorsorgeangebote gibt es heute mehr denn je, allerdings auf freiwilliger Basis - mit der Folge, dass sie gerade von den bildungsfernen und sozial schwachen Gruppen nicht genutzt werden. Obwohl Fehlernährung, verbunden mit Übergewicht, körperlichen Mangelerscheinungen und Karies (!) zu einem erhöhten Behandlungsbedarf führen müssten, ist genau das Gegenteil eingetreten: Seit Einführung der Praxisgebühr ist ein Rückgang der Arzt- und Zahnarztbesuche zu verzeichnen, vor allem bei den sozialen Risikogruppen.

Diese Veränderungen werden selbstverständlich auch unseren Berufsstand treffen: Wir werden weniger Patienten haben, aufgrund von Geburtenrückgang und Gleichgültigkeit gegenüber gesundheitlichen Risiken. Mit Aufklärung und noch umfangreicheren Prophylaxeprogrammen wird man die betroffenen Zielgruppen aber nicht erreichen. Die vom Staat gewünschte Selbstverantwortung kommt hier an ihre Grenzen. Die Reform der Reform im Gesundheitswesen soll es nun bringen und nach Ulla Schmidts Vorstellungen Mitte des Jahres verabschiedet werden. Voraussichtlich wird es aber wieder nur Verlierer geben.

Dr. med. dent. Cornelia Gins