PiD - Psychotherapie im Dialog 2006; 7(3): 318-321
DOI: 10.1055/s-2006-940048
Interview
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die heilende Kraft der Achtsamkeit

Jon  Kabat-Zinn und Saki  Santorelli im Gespräch mit Petra  Meibert und Angelika  Wild-Regel
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Publication Date:
05 September 2006 (online)

Jon Kabat-Zinn entwickelte 1979 ein achtwöchiges Trainingsprogramm zur Stressbewältigung durch die Praxis der Achtsamkeit (MBSR - Mindfulness-Based Stress Reduction) mit acht Gruppensitzungen und einem ganztägigen Schweige-Seminar. Verschiedene formale Meditationspraktiken bilden den Kern des Programms wie Sitz- und Gehmeditation, Yoga und Körpermeditation. Neben der formalen Praxis kommt der Kultivierung der Achtsamkeit im täglichen Leben große Bedeutung zu.

PiD: Prof. Kabat-Zinn, wie sind Sie selbst dazu gekommen, Meditation zu praktizieren und welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht?

J. Kabat-Zinn: Ich habe schon früh eine Sehnsucht in mir verspürt, die Welt nicht nur so zu verstehen, wie man es von mir erwartete, also in Begriffen der Naturwissenschaften oder der Geisteswissenschaften. So habe ich bereits in jungen Jahren nach einer integrativen Möglichkeit des Verständnisses der Welt gesucht, in der sich unterschiedliche Ansichten und Möglichkeiten, die Welt zu betrachten, vereinigen und habe schließlich die Meditation entdeckt. Ich habe verschiedene Wege ausprobiert und schließlich 1966 mit formaler Meditation in der Zen-Tradition begonnen. Ich habe diese Meditationsform geliebt und praktiziere sie noch immer.

Prof. Kabat-Zinn und Prof. Santorelli

Prof. Kabat-Zinn, was hat Sie motiviert, die Achtsamkeitspraxis in einem Acht-Wochen-Kurs für chronisch kranke Menschen anzubieten?

J. Kabat-Zinn: Nun, je mehr ich selbst in die Erfahrung der Meditation eindrang, desto mehr wollte ich sie für mich zu einer Lebensweise machen. Ich begann mich also zu fragen, wie ich einen Beruf daraus machen könnte, der es mir erlauben würde, das, was ich entdeckte, mit anderen Menschen zu teilen, mit Menschen, die chronisch krank sind und möglicherweise sehr viel durch die Meditation gewinnen könnten. Schließlich hatte ich die Vision, die Meditation im Rahmen eines achtwöchigen Programms in der Klinik anzubieten, in der ich arbeitete. Und damit wurde es möglich, Menschen zu erreichen, die ansonsten durch die Lücken unseres Gesundheitssystems fallen würden. Ich wollte ihnen etwas anbieten, das sie selber für sich tun konnten, auf der Grundlage einer Art intensiven Schulungsprogramms in Meditationsübungen, einschließlich des achtsamen Hatha-Yoga. Ich hoffte, dass dies ungemein hilfreich für diese Menschen sein könnte.

Ich war also 35 Jahre alt, als ich das Stressreduktionsprogramm ins Leben rief als Ergebnis der Suche danach, was meine Aufgabe auf diesem Planeten ist. Nun, ich glaube, ich habe sie gefunden.

Prof. Santorelli, welcher Personenkreis nimmt an den Achtsamkeitsschulungen teil und was bringt Menschen dazu, während des achtwöchigen Programms jeden Tag 45 Minuten zu üben?

S. Santorelli: Die Menschen, die zu uns kommen, haben entweder eine Krankheitsdiagnose wie etwa chronische Schmerzen oder sie kommen, weil sie sich nicht wohl fühlen oder nicht „sie selbst” sind.

Manche der Probleme, die Menschen bewegen, an einem MBSR-Kurs teilzunehmen, haben also mit dem körperlichen Wohlbefinden zu tun, andere mit der eigenen Identität. Und dann kommen da natürlich noch Menschen zu uns, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine offenkundigen medizinischen Symptome erkennen lassen, die aber das zu spüren beginnen, was wir die Last des Lebens auf diesem Planeten im 21. Jahrhundert nennen könnten. Ein Lebensstil, durch den das Tempo und der Druck so intensiv wurden, dass es nicht leicht ist, damit Schritt zu halten und trotzdem ein gewisses Maß an Geistesklarheit und Wohlbefinden aufrechtzuerhalten. Diese Menschen suchen eine Antwort auf die Frage: „Wie kann ich mit diesem Stress besser umgehen lernen, ohne dass ich krank werde?”

J. Kabat-Zinn: Wir hatten die Idee, innerhalb eines relativ beschränkten Zeitrahmens mithilfe der Achtsamkeitspraxis Menschen einen Weg zu zeigen, ihre Selbstheilungskräfte sowie tiefen inneren Ressourcen der Gesundung und der Transformation zu mobilisieren und zwar nicht nur während der acht Wochen, sondern während ihrer gesamten Lebenszeit.

Prof. Kabat-Zinn, Sie haben das Programm „Stressbewältigung durch Achtsamkeit” („Mindfulness-Based Stress Reduction”) genannt. Was bedeutet der Begriff „Stress” für Sie?

J. Kabat-Zinn: Stress ist ein sehr allgemeiner Begriff und gleichzeitig ein universelles Phänomen, das jeder kennt, und viele Menschen leiden darunter. So weist der Begriff „Stress” auf die alltägliche Situation des Menschen hin und auf den Umgang mit Angst, Belastungen, Kummer und diesem grundlegenden Unbefriedigt-Sein, was heutzutage viele Menschen erleben. Wir wollten möglichst viele Menschen ansprechen, weil Stress, also der Umgang mit unangenehmen, belastenden Gefühlen und Geisteszuständen eines der grundlegenden Probleme der Menschen ist.

Nun, es gibt viele Dinge, die kurzfristig Stress reduzieren können - etwa Sport treiben, ein Kinobesuch, in Urlaub fahren oder Ablenkungen ganz allgemein.

Wenn wir unser Programm Stressreduktion durch die Praxis der Achtsamkeit nennen, dann deutet das darauf hin, dass es im MBSR mehr darum geht, eine Haltung des Annehmens zu kultivieren und eine Art Bewusstseinswandel zu initiieren, also einen grundlegend anderen Umgang mit unseren Schwierigkeiten, bei dem wir eine Vertrautheit kultivieren mit dem Stress. Wir erkennen dadurch, wie wir durch einen Mangel an Gewahrsein oder durch die Aktivitäten unseres Geistes, unser Leiden selbst erzeugen oder es intensivieren.

Die Praxis der Achtsamkeit ist das Herz der buddhistischen Meditation und dieser Weg ist im Grunde die Arbeit eines ganzen Lebens und nicht etwas, das man in acht Wochen erledigen könnte. Das Programm ist also so etwas wie eine Startrampe, von der aus die Menschen auf eine neue Art und Weise mit ihrem eigenen Leben und der Welt in Beziehung kommen können. Etwas, das ihnen ein größeres Maß an Freiheit ermöglicht, um Eigenschaften wie Friedfertigkeit, Selbstakzeptanz, Geduld, Klarheit und Geistesruhe zu entwickeln. Aber auch um all jene gegensätzlichen Geisteszustände wie Verblendung, Eifersucht, Zorn, Hass und alles, in das wir uns verstricken, annehmen zu können.

So geht es für uns nicht darum, dass nach der Teilnahme an einem MBSR-Programm alle negativen Gefühle verschwunden sind, sondern wir lehren, die alten automatischen Verhaltensmuster achtsam anzunehmen und dann damit zu arbeiten. Wenn Sie nämlich diese grundlegenden Aspekte Ihres Seins vernachlässigen, dann können Sie einfach kein gesundes oder heiles, also „ganzes” Leben führen, weil es tiefe Aspekte Ihres Lebens gibt, denen Sie sich nicht stellen.

So eröffnet die Kraft der Meditation, bei der es um den gegenwärtigen Augenblick geht sowie darum, nicht zu urteilen, den Teilnehmern Möglichkeiten, eine Nähe zu sich selbst zu kultivieren, die in der Tat heilend und transformierend ist. Zumindest ist es meine tiefe Überzeugung, dass dem so ist, und wir versuchen auch Forschungsarbeit zu leisten, die so objektiv wie möglich die Auswirkungen der Achtsamkeitsschulung auf körperliche und geistige Gesundheit belegt.

Sitzmeditation

Prof. Santorelli, wie können Achtsamkeitsübungen, die den Menschen zunächst empfindsamer für sich und seine Umwelt machen, letztendlich zu seiner Genesung und Heilung beitragen?

S. Santorelli: Der Prozess der Achtsamkeitspraxis hat etwas Rezeptives. Der Übende entwickelt eine Bereitschaft, innezuhalten und die Dinge anzusehen. Die Menschen werden sensibler und feinfühliger. Lassen Sie mich dies am Beispiel der Migräne erläutern: Die Übenden beginnen subtile Signale im Körper zu erkennen, bevor die Kopfschmerzen auftreten, Signale, die sie zuvor nicht wahrgenommen haben, und können dann entsprechend reagieren. Oder: Eine Person mit einer Panikstörung wird durch das regelmäßige Praktizieren von Achtsamkeitsübungen schon eine Weile vor dem Einsetzen einer Panikattacke auf die Empfindungen im Körper aufmerksam werden, die den Gefühlen von Angst oder Panik vorausgehen.

Es ist nicht so, dass diese Signale und Frühwarnsymptome zuvor nicht da waren. Es ist vielmehr so, dass die Menschen dafür nicht so sensibilisiert waren, wie sie es durch die Praxis der Achtsamkeit sind. Und wenn sie für diese Signale empfänglicher werden, dann beginnen sie auch die Beziehungen zwischen Ereignissen im Geist und Ereignissen im Körper zu erkennen. Das ermöglicht ihnen eine Art von, nun, ich würde nicht unbedingt sagen Kontrolle, doch zumindest einen gewissen Einfluss auf etwas, das zuvor ein konditionierter, automatisch ablaufender Prozess zu sein schien. Die Übenden erkennen, dass sie sich tatsächlich in diesen Prozess einschalten können in dem Sinne, dass sie mit diesem konditionierten Prozess auf eine Art und Weise umgehen können, die nicht mehr konditioniert und automatisch ist, weil es zu einer Art von Bewusstseinswandel gekommen ist.

Yoga

Prof. Santorelli, es gibt ein Achtsamkeitsprogramm, das speziell für Menschen entwickelt wurde, die schon mehrmals Depressionen erlitten haben, die sog. achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie (MBCT), um einen erneuten depressiven Rückfall zu vermeiden oder anders damit umzugehen. Hält die Achtsamkeitspraxis jetzt auch Einzug in die Psychotherapie und wo liegt der Unterschied zwischen der MBCT und dem MBSR-Programm?

S. Santorelli: Es gibt eine große Überlappung zwischen dem MBSR- und dem MBCT-Programm. Ich glaube, dass MBSR die Kognitive Verhaltenstherapie auf eine Weise beeinflussen kann, die das Potenzial für eine tief greifende Änderung in der therapeutischen Haltung beinhaltet. Es gibt z. B. erste Forschungsergebnisse, die zeigen, dass ein akzeptierender, annehmender und bewusst wahrnehmender Umgang mit Gedanken und Gefühlen in schwierigen Situation deutlich vorteilhafter ist als eine Strategie des Ersetzens von negativen Gedanken durch positive, so wie man es in der Kognitiven Verhaltenstherapie bisher machen würde.

Ich glaube, dass MBSR einen gewissen synergetischen Effekt haben kann und die Frage aufwirft, wie Achtsamkeit und Verhaltenstherapie in Wechselwirkung miteinander treten können, was eine große Chance beinhaltet.

J. Kabat-Zinn: Vielleicht kann ich noch ein oder zwei Dinge hinzufügen. Ich komme gerade von einem internationalen Kongress für Kognitive Therapie in Göteborg, wo der Dalai Lama mit Verhaltenstherapeuten ins Gespräch kam; dabei stellte sich heraus, dass es tatsächlich Überschneidungen gibt. Das liegt zum Teil daran, dass es in der Tradition des tibetischen Buddhismus die analytische Meditation gibt. Dabei wird der Verstand eingesetzt und äußerst scharfe Logik, und diese Methode hat in der Tat viel mit der Veränderung von Gedanken zu tun. Man löscht Gedanken und Gefühle aus, die mit Zorn, Hass und Gier zu tun haben, und nährt Gedanken, bei denen es um das Wohlergehen anderer geht, und setzt sie an ihre Stelle.

Dies ist unserer Erfahrung nach etwas, das in der westlichen Kultur sehr leicht missverstanden werden kann, weshalb wir diesen Ansatz im MBSR-Programm nicht benutzen. Man kann auf diese Art leicht in Wunschdenken abdriften und in das Bemühen, etwas Unangenehmes einfach loswerden zu wollen.

Hinzu kommt noch ein anderer Grund dafür, dass wir das Ersetzen von Gedanken im MBSR-Ansatz nicht verwenden, was ihn von der traditionellen kognitiven Verhaltenstherapie unterscheidet. Es gibt in den meditativen Traditionen etwas tief Ergreifendes, das mit dem Gewahrsein selbst in Bezug auf Gedanken und Gefühle zu tun hat. Dieses Gewahrsein wird auf eine Weise kultiviert, die stabil und nicht-urteilend ist und die Gedanken so betrachtet, dass man nicht an ihnen haftet, sondern lernt, sie einfach als Ereignisse im Feld des Gewahrseins zu identifizieren. So ist es möglich, eine tiefgründige Erkenntnis der Vergänglichkeit von Gedanken zu gewinnen. Im Allgemeinen halten wir unsere Gedanken für die Wahrheit, anstatt zu sehen, dass sie ein Produkt des Geistes sind, das aus reiner Gewohnheit eine solche Macht über uns hat. Wenn man beginnt, die Gedanken auf die beschriebene Weise zu sehen, dann verlieren sie ihre Energie und werden einfach wie Seifenblasen. Wenn sie diese mit dem Finger berühren, lösen sie sich auf. Wenn das Gewahrsein die Gedanken oder die Gefühle auf eine solche Weise wahrnimmt, dann können sie sich auflösen. Zumindest aber halten wir sie nicht mehr für die ganze Wirklichkeit, und das ist das befreiende und heilende Potenzial.

Natürlich ist dies ein Weg und die Fähigkeit entfaltet sich deshalb mit der Zeit. Es ist nicht etwas, das man ein für allemal erlangt. Jedermann verstrickt sich in seine Gedanken und Gefühle. Da gibt es, soweit ich weiß, keine Ausnahmen. Aber wie sehr wir uns verstricken, wie schnell wir uns verstricken und wie lange wir verstrickt bleiben, das sind Dinge, auf die wir enorm großen Einfluss haben können, wenn wir auf diese Weise praktizieren. Ich glaube, wir haben im Moment die Chance zu einer tief greifenden Veränderung in unserer Haltung zu Krankheit und psychischen Problemen sowie zu einer wirklichen Rückbesinnung auf das eigene Innere und das tiefe Potenzial für Heilung und Transformation, das der Achtsamkeitspraxis innewohnt.

Wir können das westliche Verständnis des Geistes und Körpers mit den Jahrtausende alten kontemplativen Traditionen des Ostens zusammenführen und von ihnen lernen. Wenn MBSR dazu beitragen könnte, wäre das sehr gut. Diese Erfahrungen auf die eine oder andere Weise zu trivialisieren, indem wir sie einfach irgendwie zusammenmischen, ohne sie in tiefer innerer Erfahrung persönlich erkundet zu haben, würde bedeuten, dass wir eine großartige Gelegenheit versäumen.

Wir bedanken uns für das Gespräch.

Weiterführende Literatur

  • 1 Allmen F v. Die Freiheit entdecken. Vipassana Meditation im Westen. Berlin; Theseus Verlag 1990
  • 2 Goldstein J. Vipassana-Meditation. Freiamt; Arbor Verlag 1999
  • 3 Kabat-Zinn J. Gesund durch Meditation. München; O. W. Barth 2001
  • 4 Kabat-Zinn J. Im Alltag Ruhe finden. Freiburg; Herder Spektrum 1998
  • 5 Kabat-Zinn J. Zur Besinnung kommen. Freiamt; Arbor Verlag 2006
  • 6 Meibert P, Michalak J, Heidenreich T. Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion - Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR) nach Kabat-Zinn. In: Heidenreich T, Michalak J (Hrsg) Achtsamkeit und Akzeptanz in der Psychotherapie - ein Handbuch. Tübingen; Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie 2004: 142-191
  • 7 Santorelli S. Zerbrochen und doch ganz. Freiamt; Arbor Verlag 1999
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