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DOI: 10.1055/s-2006-939793
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
ADHS und Partnerschaft - Lass mich, doch verlass mich nicht
Publication History
Publication Date:
26 April 2006 (online)

Cordula Neuhaus: Lass mich, doch verlass mich nicht. ADHS und Partnerschaft. München: dtv (2005) Broschiert, 300 Seiten, DtvVerlag, ISBN: 3423341068, 10 Euro
Der Inhalt dieses preiswerten Taschenbuchs geht weit über das hinaus, was der Titel zunächst verspricht. ADHS und Partnerschaft bildet zwar einen inhaltlichen Schwerpunkt, dem Leser wird aber das gesamte Spektrum an Besonderheiten von Menschen mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung knapp, verständlich und dennoch umfassend vermittelt.
Die einleitenden Kapitel über den derzeitigen Wissensstand und die Symptomatik berücksichtigen neben den aktuellen Leitlinien jüngste Erkenntnisse der neuroanatomischen, neuropsychologischen und emotionskognitiven Forschung. Die Autorin hat sich hierzu viele eigene Gedanken gemacht und sie weist in differenzierter Weise auf weiteren Forschungsbedarf hin, so z.B. hinsichtlich gemeinsamer Symptome der ADHS und der Borderline-Störung bzw. den Essstörungen. Sie vermag, Die Wahrnehmungsweise und Reaktionen von Patienten mit ADHS auf der Basis neurobiologischer Befunde anschaulich zu vermitteln, wobei Metaphern wie die "chronische Insuffizienz des Arbeitsspeichers" oder der schlecht ausgebildete "automatische Perspektivenwechsel" dem Leser diese Störung wirklich vorstellbar machen. Immer wieder finden sich dabei Implikationen für den alltäglichen Umgang mit den Betroffenen. Die Beschreibungskriterien der ADHS werden in einem längeren Abschnitt nicht nur - wie sonst meist üblich - aufgelistet, sondern anschaulich für Kinder und Erwachsene differenziert dargestellt. Es finden sich zahlreiche Beispiele, aus welchen Gründen manche Symptome im Alltag nicht konstant vorliegen müssen und daher bei zu kurzer Verhaltensbeobachtung übersehen werden können.
Weitere Kapitel über Diagnostik, Differenzialdiagnostik und komorbide Störungen der ADHS im Erwachsenenalter zeigen neben den internationalen diagnostischen Standards typische Problemfelder der Betroffenen auf. Ihre eigene jahrelange Berufserfahrung auf diesem Gebiet macht es der Autorin möglich, praktische Tipps und wertvolle Hinweise für den Untersucher zu liefern. Sie geht gesondert auf Schwierigkeiten ein, die betroffene Frauen während der Schwangerschaft oder im Umgang mit ihren Kindern haben können, insbesondere wenn Partner und/oder Kinder ebenfalls an der ADHS leiden. Das nachfolgende Kapitel über die Identitätsentwicklung bei ADHS behandelt die komplexe Entwicklungspsychopathologie dieser Störung.
In den folgenden Abschnitten widmet sich die Autorin den oft konfliktreichen Paarbeziehungen und der Sexualität von Menschen mit ADHS. Es wird nachvollziehbar aufgezeigt, warum bestimmte syndromspezifische Wahrnehmungsmuster und Verhaltensweisen sich auf die Partnerschaft auswirken müssen. So ist es auch nicht verwunderlich, warum bei Partnerschaftskonflikten z.B. die Vermittlung eines Störungsbildverständnisses hilfreich, eine systemische Paartherapie dagegen meist sinnlos ist. Man findet auch ansonsten selten angesprochene Fragestellungen wie ADHS und prämenstruelles Syndrom oder ADHS und Eifersucht in dieser durch kurze Fallbeispiele anschaulichen Darstellung, die dem Leser immer wieder die abweichenden Wahrnehmungs- und Kommunikationsmuster der Betroffenen vor Augen hält.
Die zentrale Rolle eines umfassenden Störungsbildverständnisses wird hierbei stets im Auge behalten. Daneben finden sich praktische Tipps zur Anwendung von Ordnungs- und Strukturierungshilfen, zur besseren Kommunikation sowie einfache und umsetzbare Anleitungen zur Verhaltensmodifikation im Umgang mit anderen und weitere "Techniken aus dem ADHS-Nähkästchen". Aktives Ablenken in angstbesetzten Situationen, Aufschreiben und Selbstgespräch, "Mikroanalysen" unerwarteter Schwierigkeiten sind nur einige von vielen Beispielen. Ein abschließendes Kapitel über die Medikation versteht sich nicht als pharmakologische Abhandlung, sondern behandelt häufig geäußerte Befürchtungen und den nicht selten problematischen Umgang mit den Medikamenten. Sehr schön, dass die Autorin aufzeigt, welch eine komplexe Dynamik auch nach einer erfolgreichen Behandlung einsetzen kann! So können insbesondere neue Konfliktfelder entstehen, wenn sich nur einer der beiden betroffenen Partner behandeln lässt.
Dieses Buch behandelt weniger was ADHS ist, sondern wie ein Mensch mit ADHS seine Umgebung wahrnimmt, fühlt und handelt, welche Konsequenzen sich hieraus ergeben und was er daran ändern kann. Wer sich einen ersten Überblick über das Störungsbild bei Erwachsenen verschaffen möchte, sollte zunächst auf andere, systematischere Darstellungen zurückgreifen. Auch behandelt das Buch nicht nur ADHS und Partnerschaft, sondern zeigt auf, wie komplex sich die ADHS auf alle sozialen Beziehungen vom Säuglings- bis hin zum Erwachsenenalter auswirken kann. Für Betroffene, deren Angehörige und natürlich auch Partner, die sich bereits ein Basiswissen angeeignet haben, wird es auf jeden Fall eine große Bereicherung sein, aber auch für Ärzte und nichtärztliche Therapeuten.
Prof. E. Trott, Aschaffenburg
