Der Klinikarzt 2006; 35(3): 85-87
DOI: 10.1055/s-2006-939731
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Wo leben (sterben) wir denn?

Burckart Stegemann
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Publication Date:
24 March 2006 (online)

Aufgeschreckt wurde ich durch eine Fernsehsendung „Stern TV” am 22.2.06 bei RTL mit dem Moderator Günter Jauch: Dort wurde ein junger Mann Mitte zwanzig interviewt, der in der Nähe von Warburg einen sehr schweren Verkehrsunfall erlitt, bei dem er eingeklemmt wurde. Die Rettungskräfte konnten ihn nur unter großen Mühen bergen. Er hatte ein Multitrauma erlitten und wurde zunächst in das örtliche Krankenhaus eingeliefert, das die Erstversorgung übernahm. Für die erforderliche, weiter gehende Versorgung war das Krankenhaus aber nicht eingerichtet, was ja an sich nichts Außergewöhnliches ist.

Der dann geschilderte Versuch, den Patienten rasch in ein hierfür geeignetes Klinikum zu verlegen, ließ mich nicht nur aufhorchen, sondern doch eher massiv erschrecken! Die Universitätskliniken Frankfurt, Gießen und Marburg lehnten eine sofortige Übernahme ab. Sechs weitere größere Kliniken, darunter beispielsweise auch die Unfallklinik Bochum, sahen sich sämtlich ebenfalls nicht in der Lage, den lebensbedrohten Patienten aufzunehmen, obwohl - wie man weiß - beim Multitrauma bereits Minuten zählen. Erst nach drei Stunden (!) nahm sich die Medizinische Hochschule Hannover des Patienten an, die Ärzte dort konnten ihn glücklicherweise erfolgreich weiterbehandeln.

Neben dem noch vom Unfall gezeichneten jungen Mann waren seine Ehefrau sowie ein Arzt der Medizinischen Hochschule Hannover die Gäste des Moderators. Erfreulicherweise hat keiner der Gesprächsteilnehmer Unterstellungen, Schuldzuweisungen oder Ähnliches in die Diskussion eingebracht, vielmehr wurde dargestellt, dass Kliniken durchaus infolge einer Überlastung im OP und Intensivbereich im Einzelfall nicht in der Lage sein können, einen multitraumatisierten Patienten aufzunehmen. Dennoch: Bei dem Renomee und der Anzahl - neun (!) - der aufgezählten Kliniken bekommt man, auch als Unbeteiligter, eine Gänsehaut! Die in der Sendung hervorgehobene Information, dass ein polytraumatisierter Patient deutsche Kliniken in der Regel mit mehreren Tausend Euro Minus belastet und in diesem speziellen Fall die Medizinische Hochschule Hannover sogar mit 30000 Euro, ist schlichtweg alarmierend und unfassbar! Dem Unfallopfer und der Ehefrau waren dabei auch der Schreck ins Gesicht geschrieben. Welche Konsequenzen derartige „Regelungen” für Patienten haben könnten, darüber wurde nicht diskutiert und auch an dieser Stelle soll hierüber nicht spekuliert werden.

Führt man sich jedoch vor Augen, dass Ärzte von ihren Finanzmanagern heute angehalten werden, in ihren Patienten in erster Linie „Kunden” zu sehen, muss man sich doch fragen, welcher Geschäftsmann eine ähnliche Situation akzeptieren würde - nämlich dass ein Kunde sein Geschäft betritt und er in diesem Moment bereits weiß, dass er als Geschäftsmann reichlich Geld zulegen muss. Dies führt jede Geschäftsidee ad absurdum. Eine wahrhaft unglückselige Verquickung von Medizin und Kommerz, vor der schon unser Altbundespräsident Rau nicht müde wurde intensiv zu warnen! Auch unsere heranwachsenden Ärzte werden bei fast jeder Fragestellung heute mit dem Hinweis nach dem Geldwert einer Tätigkeit konfrontiert und erleben am eigenen Leib, wie man unter schamloser Ausnutzung ihrer Belange und ethischer Grundsätze versucht, weniger Geld investieren zu müssen.

Zum Schluss kam aber bei der Sendung die alles übertreffende Mitteilung zu Tage: Geld könne bei einem Polytraumatisierten nur dann verdient werden, wenn beispielsweise lange künstlich beatmet werden muss oder aber ein polytraumatisierter Patient („Kunde”) nach wenigen Tagen verstirbt!

Wo leben (sterben) wir denn?

Prof. Dr. Burckart Stegemann

Hagen

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