ZFA (Stuttgart) 2006; 82(5): 223-230
DOI: 10.1055/s-2006-933417
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Thoraxschmerzen - hausärztliches Dilemma zwischen Fehl- und Überdiagnostik

Thoracic Pain - the General Practitioner's Dilemma between Wrong and OverdiagnosticsA. C. Sönnichsen1 , N. Donner-Banzhoff1
  • 1Universität Marburg, Abteilung für Allgemeinmedizin, Rehabilitative und Präventive Medizin
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Publication Date:
11 May 2006 (online)

Eine 51-jährige Patientin, die in einem Büro in der Nachbarschaft arbeitet, kommt wegen stechender Schmerzen in der Brust und im Rücken gegen 15.00 Uhr in die Nachmittagssprechstunde. Die Schmerzen haben nach dem Mittagessen begonnen und seien dann langsam schlimmer geworden. Sie fühle sich jetzt einfach nicht wohl und möchte lieber nach Hause gehen. Sie komme weniger wegen der Beschwerden als wegen der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die ihr Arbeitgeber verlangen würde. Sie habe in letzter Zeit öfter mal derartige Schmerzen und zudem auch Kreuzschmerzen. Sie säße den ganzen Tag vor dem Bildschirm und sei insgesamt etwas überarbeitet. Die Patientin raucht 15 Zigaretten pro Tag und hat keine wesentlichen Vorerkrankungen oder sonstige kardiovaskuläre Risikofaktoren. RR 125/85 mm Hg, Muskelverspannungen nuchal und paravertebral, sonst unauffälliger körperlicher Untersuchungsbefund, unauffälliges Ruhe-EKG.

Die Patientin bekommt ihre AU - mit der Diagnose „vertebragenes Syndrom” (ICD10 M54.1) und die Anweisung, bei Bedarf Paracetamol zu nehmen und sich sofort zu melden, wenn die Beschwerden wider Erwarten schlimmer werden. Am nächsten Morgen kommt ein Anruf von der Klinik. Die Patientin sei am Vorabend wegen eines akuten Hinterwandinfarkts stationär aufgenommen worden.

Von derartigen hausärztlichen „Fehlern” ist immer wieder zu hören. Erst kürzlich wurde ein ähnlicher Fall als „Fehler des Monats” unter „www.jeder-fehler-zaehlt.de” publiziert. Diese Fälle verdeutlichen das hausärztliche Dilemma, einerseits keinen ernsthaft Erkrankten mit dem Symptom Thoraxschmerz zu übersehen und andererseits aber auch nicht durch überkonsequente Abklärung dieses Symptoms eine hohe Zahl an falsch positiven Befunden zu produzieren, die in vielen Fällen unnötige, teuere und für den Patienten belastende invasive Untersuchungen nach sich ziehen. Wir wagen mit dieser Übersicht über den Symptomenkomplex Thoraxschmerz die These, dass das Übersehen eines Infarktpatienten in bestimmten Fällen kein Fehler ist, sondern die immanente Konsequenz aus einer rationalen und letztlich für die große Mehrheit der Patienten vorteilhaften diagnostischen Vorgehensweise.

Thoraxschmerzen gehören mit etwa 1,5 % aller durch Symptome bedingten neuen Patientenkontakte zu den häufigen Beratungsursachen in der hausärztlichen Praxis [1]. Nur bei 4,8 % der Patienten liegt eine schwerwiegende kardiovaskuläre Erkrankung zu Grunde, die sofortiges ärztliches Handeln erfordert [2]. Fast immer handelt es sich dabei um eine akute koronare Herzkrankheit (akutes Koronarsyndrom oder Myokardinfarkt), seltener um eine Lungenembolie und in Ausnahmefällen um Raritäten wie ein rupturiertes Aortenaneurysma. In allen Fällen hängt das Schicksal des Patienten in dramatischer Weise von den Entscheidungen ab, die der erstversorgende Arzt trifft. Es ist daher unabdingbar, dass der Hausarzt akute kardiovaskuläre Ereignisse erkennt und ohne Zeitverzögerung eine entsprechende Behandlung bzw. weitere Diagnostik einleitet.

1,5 % aller symptomatischen hausärztlichen Patienten kommen wegen Thoraxschmerz in die Sprechstunde. Davon knapp 5 % mit akutem kardiovaskulären Ereignis, etwa 8 % mit stabiler Angina pectoris. Die hausärztliche Praxis ist somit ein Niedrigprävalenzbereich für die koronare Herzkrankheit, was für die Aussagekraft der Diagnostik von großer Bedeutung ist.

Zunächst ist bei einem Patienten mit Thoraxschmerzen also zu entscheiden, ob es sich um einen akuten Notfall handelt, der eine sofortige Klinikeinweisung erforderlich macht. Wenn dies nicht der Fall ist, muss abgeklärt werden, ob eine sonstige schwerwiegende kardiale oder nicht-kardiale Erkrankung vorliegt, bei der zwar keine direkte Notfallversorgung, jedoch eine zeitnahe weitere Abklärung und ggf. Therapie nötig ist. Zu diesen Erkrankungen zählt beispielsweise die stabile Angina pectoris, deren Prävalenz unter hausärztlichen Thoraxschmerz-Patienten mit 8,4 % angegeben wird [2].

Nach Ausschluss dieser beiden Gruppen bleiben über 85 % der Thoraxschmerzpatienten übrig, bei denen keine schwere Erkrankung vorliegt. Diese Patienten können wiederum in zwei Gruppen eingeteilt werden. Die Erste, etwa 30 % aller Thoraxschmerzpatienten, hat eine organisch fassbare Erkrankung, die diagnostiziert und spezifisch therapiert werden kann (z. B. Refluxösophagitis). Die Zweite bedarf keiner weiteren Diagnostik und allenfalls einer symptomatischen Therapie. Die überwiegende Mehrheit letzterer Patienten leidet unter muskuloskelettal oder funktionell bedingten Beschwerden (> 50 %) [2]. In diesen Fällen ist es notwendig, bei der Diagnostik Augenmaß zu bewahren. Einerseits sollen zwar möglichst keine ernsthaften Erkrankungen übersehen werden, andererseits besteht die Gefahr, durch unkritisch eingesetzte Diagnostik eine hohe Anzahl falsch positiver Befunde zu erheben, die dann weiter abgeklärt werden müssen, häufig durch zunehmend invasive diagnostische Schritte. Zudem werden Patienten ohne nennenswerte organische Erkrankung durch jegliche diagnostische Maßnahme in der Annahme bestätigt, dass ihre Beschwerden organischer Natur seien. Sie werden auf diese Weise medikalisiert und in ihrer Somatisierungstendenz verstärkt.

Eine wichtige Aufgabe des Hausarztes ist in diesen Fällen der behutsame Umgang mit der nie ganz ausräumbaren diagnostischen Unsicherheit. Die beste verfügbare Vorgehensweise ist hier das „abwartende Offenhalten”, das Arzt und Patient wachsam sein lässt, ohne Angst zu machen.

85 % der hausärztlichen Patienten mit Thoraxschmerzen haben keine schwere Erkrankung, 30 % organische Krankheit, die eine spezifische Therapie erfordert, und über 50 % funktionell oder muskuloskelettal bedingte Schmerzen. Hier gilt: zurückhaltende Diagnostik, um falsch positive Befunde und invasive Folgediagnostik zu vermeiden.

Wie kommt der Hausarzt also schnell und mit möglichst hoher diagnostischer Sicherheit zu einer Unterscheidung zwischen akutem Notfall, ernster Erkrankung, die eine zeitnahe Abklärung erfordert, und sonstigen Thoraxschmerzen, bei denen ein wachsames abwartendes Offenhalten ausreichend ist?

Literatur

  • 1 Nilsson S, Scheike M, Engblom D,. et al . Chest pain and ischaemic heart disease in primary care.  Br J Gen Pract. 2003;  53 378-382
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Dr. med. Andreas Sönnichsen

Institut für Allgemein-, Familien- und Präventivmedizin der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität

Strubergasse 21

A-5020 Salzburg

Email: andreas.soennichsen@pmu.ac.at

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