ZWR - Das Deutsche Zahnärzteblatt 2006; 115(1/02): 9
DOI: 10.1055/s-2006-933322
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Paradigmenwechsel in der Parodontologie - Im zurückliegenden Jahrzehnt ist viel und häufig über einen Paradigmenwechsel in der Parodontologie berichtet worden. Steht heute bereits ein neuer bevor?

Thomas Hoffmann
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Publication Date:
16 February 2006 (online)

Das experimentelle Gingivitismodell von Löe und Mitarbeitern ermöglichte 2 grundlegende Ableitungen: die der infektiösen Ätiologie der Gingivitis und die der Reversibilität dieser Entzündung. Die Löe'schen Erkenntnisse leiteten einen Paradigmenwechsel - weg von der endogenen Ätiologieauffassung - ein, der sich auch in den Therapiekonzepten niederschlug. Parallel dazu bahnte sich ein Paradigmenwechsel in der Vorstellung des Verlaufs der Parodontitis an: Wurde er bis in die 70er-Jahre des vorigen Jahrhunderts als kontinuierlich verstanden, verhalfen die von Socransky und Haffajee sowie Gängler Mitte der 80er-Jahre zusammengefassten Untersuchungsergebnisse dem Konzept des diskontinuierlichen Verlaufs der Parodontitis zum Durchbruch. Dies beeinflusste wiederum - bezüglich Therapienotwendigkeit und Nachsorge - die Therapiekonzepte.

Die Ursache der unterschiedlichen Progression wurde in der Wirtsreaktivität gesucht. Als folgerichtige Ableitung war es nunmehr das Anliegen analytisch-epidemiologischer Studien, Indikatoren und Faktoren zu diskriminieren, die diese Wirtsreaktivität beeinflussen. Unter vielen epidemiologischen, klinischen und experimentellen Ergebnissen sind wiederum jene der Arbeitsgruppe von Löe als richtungsweisend aufzuführen. Die Untersuchungen an Teearbeitern in Sri Lanka belegten eindrucksvoll, dass bei gleich hoher Plaqueakkumulation nur 8 % eine aggressive Verlaufsform der Parodontitis, 81 % eine chronische und 11 % lediglich eine Gingivitis im 15-Jahres-Zeitraum entwickelten. Interessant erscheint, dass der Zahnbestand dieser Populationsgruppe ohne zahnärztliche Betreuung dem in den Industrieländern mit hoher Zahnarztdichte entsprach.

Mittlerweile sind Nikotinabusus und unkontrollierter Diabetes mellitus als Risikofaktoren der Parodontitis bestätigt, spezielle Mikroorganismen (roter Komplex), Stress, Hyperlipoproteinämie, Osteoporose, etc. werden als Risikoindikatoren diskutiert. Darüber hinaus kann die Parodontitis ihrerseits als Risikoindikator für chronisch-ischämische Herz-Kreislauf-Erkrankungen, niedergewichtige Frühgeburten, chronische Luftwegsinfektionen bei älteren Menschen und systemische Infektionen fungieren. Diese Erkenntnisse führten zu einem weiteren Paradigmenwechsel in der Ätiologieauffassung, indem von einer multifaktoriellen Ätiologie der Parodontitis ausgegangen und sie weniger als Infektionserkrankung, sondern mehr als immuno-inflammatorischer Prozess aufgefasst wird, hypothetisch vergleichbar der Rheumatioidarthritis. Auch dieser Wechsel schlug sich in den Therapiekonzepten nieder und wird sie möglicherweise künftig bedeutend verändern.

Extreme Bearbeitung der Taschenhart- oder -weichgewebewand lässt keine besseren Therapieergebnisse erwarten als gewebeschonendes Vorgehen. Grazile Hand- und Maschineninstrumente ermöglichen ein Biofilmmanagement, das unter risikoorientierter Nachsorge die parodontale Entzündungsfreiheit sichert. Neue fiberoptische, lasergestützte oder elektronische Systeme könnten dieses Anliegen künftig optimieren. Die Ergebnisse evidenzbasierter Analysen führten zur Relativierung einiger euphorisch bewerteter Therapieansätze. Speziell bei den regenerativen Verfahren kommt der Beachtung der patienten- und therapieassoziierten Faktoren eine bedeutende Rolle zu.

Durch die regenerativen Maßnahmen sowie die Grundlagen der plastischen parodontalen Chirurgie erfuhr die Implantattherapie einen gewaltigen Entwicklungsschub. Die parodontische Therapie entwickelte sich aus dem Schatten der Vorbehandlung zur Basistherapie und etablierte sich als Bindeglied zur Medizin. Forschungen zur Ätiopathogenese, Regeneration und Technologie sowie evidenzbasierte Daten eröffnen eine Zukunft, die die Entfernung der erworbenen Oberflächenschichten nicht erübrigt, sie jedoch erleichtert und sicherer gestaltet; zudem sind antiinflammatorische Interventionen, die frühzeitig in den Pathogeneseprozess eingreifen, und eine phänotypische Steuerung der Regeneration zu erwarten.

Unabdingbar für das Profitieren aller Beteiligten des Systems an diesen Entwicklungen ist ein Paradigmenwechsel in den Köpfen: Hochschullehrer müssen sich den Änderungen der Fächerdynamik öffnen, praktizierende Zahnärzte die Faszination des Fachs erkennen und in Behandlungskonzepten umsetzen und Politiker Zeichen für die Finanzierung der universitären zahnärztlichen Ausbildung und Honorierung zahnärztlicher Leistung setzen.

Prof. Thomas Hoffmann

Dresden

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