Diabetologie und Stoffwechsel 2006; 1(2): 103-105
DOI: 10.1055/s-2006-931503
Editorial
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Ist der Typ 2 Diabetes eine zentralnervöse Erkrankung?

H. L. Fehm1 , A. Peters1
  • 1Medizinische Klinik I, Universität Lübeck
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Publication Date:
22 March 2006 (online)

Vor etwa 20 Jahren begann eine Entwicklung, die als weltweite Adipositas-Epidemie beschrieben werden kann. Sie betrifft auch alle Folgekrankheiten der Adipositas, also alle Facetten des metabolischen Syndroms. Weltweit gesehen sind inzwischen nicht mehr Infektionskrankheiten und Unterernährung die Haupttodesursachen, sondern das metabolische Syndrom. Die Tatsache, dass die Adipositas-Epidemie erst vor kurzem entstanden ist, belegt, dass die Ursache der Epidemie nicht genetischer Natur sein kann; als Auslöser kommt nur ein Umweltfaktor in Frage. Insofern ist es ein Nebenweg, wenn sich der Großteil der Adipositas-Forschung derzeit mit den genetischen Grundlagen der Adipositas beschäftigt. Die Suche nach dem eigentlichen Auslöser der Epidemie hat noch nicht einmal begonnen.

In den letzten 20 Jahren hat sich aber auch das Verständnis der Pathophysiologie des metabolischen Syndroms fundamental gewandelt: Es hat sich immer deutlicher gezeigt, dass die Energiehomöostase einen zentralnervös kontrollierten Prozess darstellt und dass Adipositas und Typ 2 Diabetes als Störungen dieser Regulation aufgefasst werden können und müssen. Diese Entwicklung begann mit der Entdeckung des Leptins, eines Hormons, das im Fettgewebe gebildet wird und das Gehirn über den Zustand der Energiespeicher informiert [1]. Insulin kann prinzipiell die gleiche Information transportieren [2]. Daneben gibt es eine Reihe von gastrointestinalen Peptiden wie Obestatin, Cholezystokinin und andere, die als Sättigungssignale dienen [3]. Alle diese Signale aus der Peripherie wirken auf hypothalamische Neurone, in denen eine Vielzahl von orexigenen und anorexigenen Neuro-Peptiden gebildet wird. Um die relative Bedeutung dieser einzelnen Stoffe zu definieren und die hierarchische Ordnung der interagierenden Regelsysteme zu beschreiben, wurde die „Selfish Brain Theorie” von A. Peters et al. entwickelt [4]. Diese Theorie geht vom Primat des Zentralnervensystems bei der Allokation (Zuteilung) der Energie-Ressourcen innerhalb des Organismus aus und stellt den Energiebedarf des ZNS in den Mittelpunkt.

Obwohl das Gehirn nur 2 % der Körpermasse ausmacht, sind 50 % der Gesamt-Glukoseutilisation des Organismus dem Gehirn zugeordnet. Darüber hinaus ist das Gehirn im Gegensatz zu anderen Geweben auf Glukose als Energieträger angewiesen. Zur permanenten Aufrechterhaltung dieser gewaltigen Glukoseströme zum ZNS stehen dem Gehirn eine Reihe von Mechanismen zur Verfügung. Auf zellulärer Ebene wird die Glukoseversorgung der kortikalen Neurone durch Prozesse gewährleistet, die Pierre Magistretti und Luc Pellerin in Detail beschrieben und als „Energy on Demand” bezeichnet haben [5]. „Energy on Demand” sorgt dafür, dass jede Aktivität eines glutamatergen Neurons, d. h. die Freisetzung von Glutamat in den synaptischen Spalt, durch eine adäquate Menge von Laktat, das vom Astrozyten aus Glukose gewonnen wird, belohnt wird.

Da das ZNS im Laufe von 24 Stunden zwischen 100 und 150 g Glukose verbraucht, in der Blutbahn aber weniger als 5 g zur Verfügung stehen, sind darüber hinaus Mechanismen notwendig, die es erlauben, zusätzliche Energiequellen zu erschließen. Diese Mechanismen werden von uns unter dem Begriff „Energy on Request” zusammengefasst. Sie sind in der Abbildung schematisch dargestellt. „Energy on Request” besagt, dass die Aktivität der kortikalen Neurone dem Hippokampus/Amygdala-System mitgeteilt wird. Von dort aus wird die „Verhaltenskontrollsäule” mit ihren verschieden hypothalamischen Zentren aktiviert. Bezüglich des Allokations-Verhaltens besteht diese nach L. Swanson aus dem Ventromedialen Hypothalamus, der seinerseits die Stress-Systeme des ZNS im Nucleus paraventricularis aktiviert. Eine Aktivierung des Nucleus paraventricularis bedeutet einen Anstieg von ACTH und Cortisol, gleichzeitig eine Aktivierung des sympathischen Nervensystems. Zusammen bewirken diese Mechanismen eine Reduktion der Insulinsekretion, die Erzeugung einer Insulinresistenz der peripheren Gewebe und eine Steigerung der hepatischen Glukoseproduktion, die nun dem ZNS zur Verfügung steht. Diese Mechanismen gewährleisten so die Allokation von Glukose zum ZNS auf Kosten der peripheren Gewebe. Wenn die Allokation ungenügend ist, kommt es zu einer Neuroglukopenie. Im lateralen Hypothalamus befinden sich glukosesensitive Neurone, die auf einen Abfall der Glukose mit einer Steigerung ihrer Feuerungsrate reagieren, d. h. mit der Freisetzung von Orexinen und anderen Stoffen, die die Nahrungsaufnahme stimulieren [6]. Wenn eine ungenügende Allokation durch gesteigerte Nahrungsaufnahme ausgeglichen werden muss, ist langfristig eine Gewichtszunahme unausweichlich. Die Gewichtszunahme ihrerseits führt zu einer Aktivierung der Feedback-Signale Leptin und Insulin; diese wirken auf den Nucleus arcuatus [2]. Der Nucleus arcuatus kann ähnlich wie der Hippokampus den lateralen Hypothalamus hemmen und die Allokationssysteme aktivieren. Insofern kann der Nucleus arcuatus eine Störung im Hippokampus/Amygdala-System kompensieren. Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass der Nucleus arcuatus lediglich Feedback-Signale mediiert; von daher ist es unwahrscheinlich, dass im Nucleus arcuatus die primäre Störung bei der Adipositas zu suchen sein soll.

Obwohl allgemein akzeptiert ist, dass die Energiehomöostase des Organismus ein zentralnervöser regulierter Prozess ist, wird immer wieder die Meinung vertreten, dass die primären Adipositas und Typ 2 Diabetes auf eine fehlerhafte Ernährung und/oder mangelnde körperliche Aktivität zurückgeführt werden kann. Es ist aber das Charakteristikum eines Regelsystems, dass es solche Störungen kompensieren kann. Eine Adipositas kann vielmehr nur entstehen, wenn der Setpoint des Regelsystems, wie er durch den hippokampalen Outflow definiert ist, verändert worden ist. Wenn es durch eine Verschiebung dieses Setpoints zu einer Beeinträchtigung der Allokationssysteme kommt, muss zur Aufrechterhaltung der Energieversorgung des Gehirns die Nahrungsaufnahme permanent gesteigert werden mit der Folge, dass das Körpergewicht ansteigt und langfristig die Feedback-Signale Leptin und Insulin aktiviert werden. Diese Feedback-Signale bewirken ihrerseits eine Stimulation der Allokationssysteme, d. h. Steigerung des Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrindensystems und des sympathischen Nervensystems, die zusammen zur Glukose-Intoleranz, zum Bluthochdruck und zu den anderen Symptomen des metabolischen Syndroms führen. Der Typ 2 Diabetes wird in diesem Kontext verstanden als der Versuch des Organismus, die primär cerebrale Störung im Allokationssystem zu kompensieren.

Die derzeitigen therapeutischen Strategien zur Behandlung des Typ 2 Diabetes mellitus bestehen darin, die Glukose-Intoleranz durch Medikamente, die die Insulinsekretion steigern oder durch Insulin selbst zu überwinden und gleichzeitig die Aktivierung des sympathischen Nervensystems durch den Einsatz von α- und β-Blockern rückgängig zu machen. Letztlich bedeutet dies die Beeinträchtigung von Mechanismen, die als Kompensationsmechanismen verstanden werden müssen. Tatsächlich hat die UKPDS gezeigt, dass diese Therapien unausweichlich zu einer weiteren Steigerung des Körpergewichts führen [7] [8]. Die Gewichtszunahme war umso ausgeprägter, je intensiver die Bemühung um eine Normalisierung des Blutzuckers war. Wenn aber das Übergewicht im Zentrum der Pathophysiologie des metabolischen Syndroms steht, ist eine therapeutische Intervention, die eben dieses Symptom verschlimmert, fragwürdig. Insofern verwundern die negativen Ergebnisse der UKPDS nicht, dass nämlich die Mortalität nicht verbessert und dass die makrovaskulären Ereignisse nicht günstig beeinflusst werden [7]. Es ist offensichtlich, dass wir dringlich neue Therapiestrategien zur Behandlung des Typ 2 Diabetes brauchen, die auf dem Boden der neuen pathophysiologischen Erkenntnisse entwickelt werden müssen. Solche neuen Verfahren versuchen, die Wirkungen von Endocannabinoiden, Melanocortinen und Insulin innerhalb des zentralnervösen Regelkreises für therapeutische Ansätze zu nutzen.

H. L. Fehm

A. Peters

Literatur

  • 1 Zhang Y. et al . Positional cloning of the mouse obese gene and its human homologue.  Nature. 1994;  372 425-432
  • 2 Schwartz M W, Porte D, Jr.. Diabetes, obesity, and the brain.  Science. 2005;  307 375-379
  • 3 Zhang J V. et al . Obestatin, a peptide encoded by the ghrelin gene, opposes ghrelin"s effects on food intake.  Science. 2005;  310 996-999
  • 4 Peters A. et al . The selfish brain: competition for energy resources.  Neurosci Biobehav Rev. 2004;  28 143-180
  • 5 Magistretti P J, Pellerin L, Rothman D L, Shulman R G. Energy on demand.  Science. 1999;  283 496-497
  • 6 Cai X J. et al . Hypothalamic orexin expression: modulation by blood glucose and feeding.  Diabetes. 1999;  48 2132-2137
  • 7 UKPDS Study Group Intensive blood-glucose control with sulphonylureas or insulin compared with conventional treatment and risk of complications in patients with type 2 diabetes (UKPDS 33). Lancet 1998 352: 837-853
  • 8 Kopelman P G, Hitman G A. Diabetes. Exploding type II.  Lancet. 1998;  352 Suppl 4 SIV5

H. L. Fehm

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