ZFA (Stuttgart) 2006; 82(2): 45
DOI: 10.1055/s-2006-921477
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Die Angst vor der Nähe

H-H. Abholz1
  • 1Facharzt für Allgemeinmedizin, Abteilung für Allgemeinmedizin, Universitätsklinikum Düsseldorf
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Publication Date:
22 February 2006 (online)

Nähe zu einem Menschen bedeutet emotionale Einbeziehung und darüber vermittelt auch Verlust an Objektivität ihm gegenüber. Sie bedeutet fernerhin Interaktion zwischen mir und dem Anderen, Erkennen der Komplexität und der Widersprüchlichkeit des Anderen sowie Verpflichtungen dem Anderen gegenüber. All dies kann Angst machen, weil man zum Beispiel die Verpflichtungen nicht tragen will, weil man die Widersprüchlichkeit beim anderen zur eigenen klaren Positionsbeschreibung ihm gegenüber nicht „brauchen kann”, weil man diese Interaktion, auch gefühlsmäßig, nicht wünscht.

Allgemeinmedizin aber braucht die Nähe, die Nähe zum Patienten. Denn wie soll ein möglichst breites Verständnis des Patienten wachsen, wie soll die Arzt-Patienten-Beziehung wachsen, die zur diagnostischen Interpretation als auch zur Therapieabschätzung und zur Therapie selbst so notwendig ist?

Das immer wieder aufgeführte Vertrauensverhältnis zum Patienten, was uns erst erfolgreich arbeiten lässt - es basiert auf Nähe, gefühlter Nähe aufseiten des Patienten sowie auf positiven Erfahrungen mit uns.

Der Allgemeinmedizin „Spezialität” ist nicht die Medizin, insbesondere nicht eines speziellen Teils der Medizin, sondern der Umgang mit dem Patienten, der Krankheit und der Medizin als System. Unsere Stärke ist dabei die Integration unseres Wissens in der Medizin mit vielen Befunden - medizinischen und psycho-sozialen - aufseiten des Patienten und seines Umfeldes. Um in diesem Umgang mit Komplexität, der dann immer für den einen speziellen Patienten in der einen speziellen Situation gilt, für den Patienten erfolgreich zu sein, müssen wir diesen wirklich gut kennen - dies gelingt über Nähe.

Und unsere Spezialität besteht auch darin, nicht immer all das, an das wir - hoffentlich - immer denken, auch zu tun, sondern nur das, was in einer speziellen Situation und bei einem speziellen Patienten sinnvoll uns und ihm erscheint. Um bei dieser Gratwanderung zwischen Nicht-Zuviel und Zuviel sicher für den Patienten zu entscheiden, müssen wir ebenfalls viel von ihm wissen und auf sein Vertrauen zu uns bauen.

Verlieren wir diese - nur unsere - Stärken und „Spezialitäten”, so wird unser Fach keine inhaltliche Existenzberichtigung mehr haben: Es wird dann nur noch die Hoffnung des Politiker auf ein Fach des Sparens von Geld und Ressourcen im Versorgungsgeschehen übrig bleiben. Dann aber spätestens ist unser ressourcensparende Umgang - nicht immer alles zu tun, an das wir als Möglichkeit auch gedacht haben - nicht mehr zu verantworten. Denn nur diese o. g. Stärken unseres Faches erlauben dies, auch verantwortungsvoll zu tun.

Nähe gehört zu unserem Fach, weil es unsere Spezialitäten erst erlaubt und unsere Stärke ausmacht. Dies müssen wir uns immer vor Augen halten, wenn wir wieder einmal beim Abbau von Nähe sind: Management-, Qualitätssicherungs- und Versorgungs-Programme der Team-Versorgung, sie alle beinhalten auch die Abgabe von Verantwortung an andere Verantwortliche in immer größer werdender Zahl. Damit bauen wir Nähe ab. Jede schnell ausgestellte Überweisung, jeder Rückzug aus der Erreichbarkeit durch den Patienten - all dies sind Fluchten vor der Nähe.

Ihr Harald Abholz

Prof. Dr. med. Heinz-Harald Abholz

Abteilung für Allgemeinmedizin · Universitätsklinikum Düsseldorf

Moorenstraße 5

40225 Düsseldorf

Email: abholz@med.uni-duesseldorf.de

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