ZWR - Das Deutsche Zahnärzteblatt 2005; 114(12): 311
DOI: 10.1055/s-2005-923751
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Brauchen wir Rituale?

Cornelia Gins
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Publication Date:
20 December 2005 (online)

Als ich ein Kind war, hatte der 24. Dezember einen ganz bestimmten Ablauf, und zwar jedes Jahr wieder. Der Tag zog sich mühsam und zäh hin. Das Betreten des Weihnachtszimmers war natürlich verboten. Die Gedanken kreisten um den Wunschzettel. Was würde wohl der Weihnachtsmann aus der umfangreichen Liste ausgewählt haben? Ich hatte ja für mich Prioritäten gesetzt. Die Frage quälte, ob er das wohl auch verstanden hatte. Endlich wurde es dunkler. Im Radio lief die Sendung: Wir warten auf das Christkind. Es wurde sich festlich gekleidet, die Großeltern kamen und wieder wurde gewartet. Dann ertönte plötzlich das bewusste Glöckchen, das sich einzig und allein zu diesem Zweck in unserem Haushalt befand: um am Heiligen Abend am späten Nachmittag ein einziges Mal zu läuten. Und nun nahm Weihnachten seinen unabänderlichen Lauf: Betreten des abgedunkelten Weihnachtszimmers, Kerzen (echte natürlich), auf der rechten Seite die Krippe mit den Figuren, die so vertraut waren. Ganz rechts auf der Anrichte die Geschenke, bestens verpackt, um den neugierigen Kinderaugen bis zum letzten Moment verborgen zu bleiben. Vom Plattenspieler ertönten Weihnachtslieder. Es durfte natürlich nicht gleich zu den Geschenken gestürmt werden. Erst hinsetzen, Musik hören und den Baum bewundern, der in jedem Jahr immer der schönste war, wie seine Vorgänger auch. Die Zeit schien einfach nicht vergehen zu wollen, doch dann endlich durfte ich zu dem ersehnten Tisch laufen. Als ich älter war, gingen mein Vater und ich nach der Bescherung, während meine Mutter das Abendbrot vorbereitete, durch die friedlichen, manchmal sogar verschneiten Alleen. Dieser Spaziergang wurde für mich besonders wichtig, er war ganz eng mit Weihnachten verbunden. Der Blick in die weihnachtlich erleuchteten Fenster war wunderbar und gab ein Gefühl der Zusammengehörigkeit mit Menschen, die man gar nicht kannte. Auch sie feierten Weihnachten, nach einem Ritual, das sie vielleicht aus ihrer Kindheit übernommen hatten.

Brauchen wir also Rituale? Oh ja, da bin ich ganz sicher. Sogar mehr denn je, denn sie geben Sicherheit und Stabilität. Unsere Gesellschaft negiert heutzutage zum großen Teil Rituale. In unserer ökonomisch und rational geprägten Zeit gelten Rituale als verstaubt und nicht zeitgemäß, also als entbehrlich. Doch in letzter Zeit wird vermehrt über den Verlust von Werten und ihre Wiedergewinnung diskutiert, sodass das Beibehalten bestimmter Rituale wieder an Bedeutung gewinnt. Inzwischen scheint bemerkt worden zu sein, dass mit dem Verschwinden von Ritualen auch die damit verbundenen Werte verloren gegangen sind. Doch ohne Werte ist die Gesellschaft entmutigt und instabil. Die Auswirkungen sind überall zu spüren. Nicht umsonst haben oft sehr zweifelhafte Gruppierungen, in denen Rituale gepflegt werden, so einen starken Zulauf.

Mehr denn je wird die Weitergabe von Werten für den Fortbestand unserer Gesellschaft wichtig sein. Das bewusste Beibehalten von bestimmten Ritualen ist eine Möglichkeit. Es liegt an uns, unseren Kindern diese Werte zu vermitteln - in welcher Form auch immer. Die Gefühle und Emotionen, die beispielsweise Rituale hervorgerufen haben, begleiten sie ein Leben lang. Sie werden ihre Zukunft nur in Zuversicht gestalten können, wenn dieser Grundstock gelegt werden konnte.

Ich erlebe Weihnachten in dieser Erinnerung. Auch wenn mein Vater nun nicht mehr dabei ist: Der Spaziergang ist geblieben - und mit ihm das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit.

Ich wünsche allen Lesern ein ganz besonderes Weihnachtsfest und einen guten Start ins Neue Jahr

Dr. med. dent. Cornelia Gins

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