Notfall & Hausarztmedizin (Notfallmedizin) 2005; 31(9): A 369
DOI: 10.1055/s-2005-921856
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Prävention: die große Hoffnung!

Ulrich Rendenbach
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Publication Date:
08 November 2005 (online)

Prävention ist wie ein Zauberwort, von dem man sich Lösungen erhofft, die „4. Säule im Gesundheitssystem”. Ungefähr 894000 Antworten findet die Suchmaschine Google im Internet auf das Stichwort Prävention. Die Inhalte reichen vom neuen Präventionsgesetz über Werbung bis zu neuen Definitionen der Präventologen (Hafen, 2001). Deren Berufsverband ließ am 15. 1. 2003 „Die Welt” berichten, das Gesundheitssystem könne jährlich um 110 Milliarden Euro entlastet werden, wendete jeder Einzelne das Konzept der breiten Prävention an. Dies klingt verführerisch und weckt Bedürfnisse bei allen Beteiligten.

Waren es früher allein Symptome, die einen Menschen zum Patienten und einen Arzt zum Therapeuten machten, so sollen heute auch Gesunde - oder gerade Gesunde - in die Praxen gehen, weil sie ja ein Risiko haben, krank zu werden. Zweifellos gibt es Methoden, die Gesundheit zu erhalten, die sinnvoll und etabliert sind, zum Beispiel rechtfertigen die meisten Impfungen Kosten und Aufwand. Umstritten ist (noch), ob ein PSA-Test dem Manne mehr nützt als schadet, und zweifellos gibt es Unsinniges wie den Spruch aus Kindertagen „Spinat ist ja so gesund” und so manche IGeL. Moderne Prävention ist etwas anderes und wesentlich mehr als Diätberatung und Koloskopie; sie muss die Entstehung von Krankheiten als zeitabhängigen Prozess eines Individuums biologisch begreifen. So wurden die Erfolge der Medizin bei der Eindämmung der großen Seuchen nicht durch die Therapie, sondern durch Maßnahmen erreicht, die aus der Erkenntnis der Pathogenese herrührten. Das bedeutet aber, dass die treibende Kraft einer Konsultation, das Symptom, ersetzt werden muss, ersetzt zum Beispiel durch Aufklärung. Wenn die neue treibende Kraft aber die Angst zum Beispiel vor Krebserkrankungen ist, wird man eben auch nur die Ängstlichen erreichen. Man wird trennen müssen - und dazu sind noch weitere beispielsweise molekularbiologische Erkenntnisse und die Analyse des menschlichen Genoms notwendig - zwischen dem individuellen Risiko des Einzelnen und dem Risiko einer Population. Kennt der Einzelne sein Risiko, wird er von den zahlreichen interagierenden biomedizinischen Parametern und Umweltfaktoren mit Hilfe seines Arztes die richtigen Schlüsse ziehen können. Nur so bleibt das System finanzierbar, denn erst dann weiß man beispielsweise, welcher Frau man durch eine Mammographie mehr nützt als schadet. Die Statistik allein löst das Problem des Einzelnen nicht, und oft genug liefert sie nur „Anscheinsbeweise”. Der Einzelne und sein Schicksal ist bei den meisten heutigen Präventionsmaßnahmen eben nur ein Teil der Statistik. Wird man aber in Zukunft zum Beispiel über Genanalysen genauer wissen, wer gefährdet ist, so kann jeder einzelne seine Umweltbedingungen seinem genetischen Risiko anpassen. Ob in Zukunft Altern ohne Krankheit möglich ist, und der Tod allein durch Altersschwäche (seniler Marasmus) eintritt oder am Ende gar nicht, wie sich Aubrey de Grey von der Universität Cambridge vorstellen kann, bleibt zunächst ein Traum.

Der alten Definition der Prävention sei eine vierte angefügt für den Hausarzt, der auch unter dem Postulat der Früherkennung seine Patienten vor überzogenen Untersuchungen, unnötiger Angst (Karzinophobie) und überflüssigen Krankheiten (z. B. Sisi-Syndrom) bewahren muss. Und schließlich muss die Frage beantwortet werden, ob die Gesellschaft dies alles finanzieren will oder nicht. 110 Milliarden Euro sollen durch Prävention gespart werden? Die Beweise fehlen, und das (noch nicht beschlossene) Präventionsgesetz lässt eher das Gegenteil vermuten. Es bleibt aber die Hoffnung, dass Chroniker-Programme (Disease Management) durch ein Gesundheits-Management ersetzt werden können. Prävention ist eine große Herausforderung!

Dr. med. Ulrich Rendenbach

Duderstadt

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