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DOI: 10.1055/s-2005-919142
Die Todesurteile des Leipziger Schöppenstuhls im Fall Woyzeck
Zwei bedeutende gerichtspsychiatrische Quellen erstmals vorgestelltThe Leipzig Magistrates Court's Death Sentences in the Woyzeck CaseTwo Sources of Major Forensic Importance Presented for the First TimePublication History
Publication Date:
16 February 2006 (online)

Zusammenfassung
Der Prozess um den Mörder Johann Christian Woyzeck gehört zu den großen gerichtspsychiatrischen Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts. Nicht nur durch das gleichnamige Drama Georg Büchners wurde der Fall weltberühmt.
Eine Rekonstruktion des historischen Prozessverlaufs würde es erlauben, gerade auch eine der wichtigsten Etappen der Entstehung moderner psychiatrischer Positionen zur Frage der Zurechnungsfähigkeit von Straftätern nachzuzeichnen. Diesem eingedenk, werden an dieser Stelle erstmals zwei wieder entdeckte, bisher nur in Abschriften bekannte, aber für die Geschichte der Gerichtspsychiatrie grundlegende Bedeutung tragende Originalhandschriften des Prozesses vorgestellt. Die beiden hier nun präsentierten Todesurteile des Leipziger Schöppenstuhls spiegeln denn sogar einigermaßen deutlich das Bemühen der herrschenden feudalen und städtischen Autoritäten wider, die Prozessvorschriften und das psychiatrisch-forensische Gutachten des mit der Untersuchung der Zurechnungsfähigkeit Woyzecks beauftragten Mediziners Johann Christian August Clarus im Sinne politisch restaurativer Interessen zu instrumentalisieren. So wird denn an den vorgegebenen gesetzlichen Schranken starr festgehalten und die eigentliche Frage, die Zurechnungsfähigkeit des Täters, steht nicht im Zentrum des Prozesses. Die Verteidigung, die noch dazu fachpsychiatrisch laienhaft und widersprüchlich argumentiert, Sachverhalte manipuliert und die gelehrte, staatsreformerisch-humanistisch sich regende Öffentlichkeit aufzubringen gedenkt, steht dagegen auf verlorenem Posten.
Abstract
The trial of Johann Christian Woyzeck for murder is among the most significant for forensic psychiatry in the 19th century. The case gained worldwide fame, not only because of Georg Büchner's eponymous drama.
A thorough analysis and reconstruction of the proceedings would allow more light to be shed on one of the major events in the evolution of modern psychiatric positions regarding criminal responsibility. To support this effort, this paper presents two original sources that have just been rediscovered in the archives, and which are of major importance in respect of both the Woyzeck case and the history of forensic psychiatry. Until now only transcripts had been available. The two documents in question relate to the death sentences issued by the Leipzig magistrates court (Schöppenstuhl). They clearly show the ruling feudal and municipal authorities' efforts to exploit both the general rules of procedure as well as the forensic testimony given by Leipzig's medical officer and professor, Johann Christian August Clarus, for their own restorative political interests. This is revealed by the fact, among others, that the legal procedures are interpreted in the narrowest possible way and the crux of the problem, namely the culprit's criminal responsibility, is not really the focus of attention. The defence does not really have a chance, the more so since it makes pleas that are both contradictory and amateurist from a psychiatric point of view. Moreover, its efforts to garner support from reformist forces, above all among scholars, are undermined by the defence team's manipulation of the facts.
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Holger Steinberg
Archiv für Leipziger Psychiatriegeschichte · Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Universität Leipzig
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