B&G Bewegungstherapie und Gesundheitssport 2005; 21(5): 190-198
DOI: 10.1055/s-2005-872488
WISSENSCHAFT

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Zur Geschichte und Gegenwart der Bewegungstherapie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie

History and current state of movement therapy in child and adolescent psychiatryG. Hölter1 , C. Stobbe1
  • 1Universität Dortmund, Fakultät Rehabilitationswissenschaften, Bewegungserziehung und Bewegungstherapie in Rehabilitation und Pädagogik bei Behinderung
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Publication Date:
24 October 2005 (online)

Einleitung

Die Recherche zur Entwicklung der Bewegungstherapie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist aus unterschiedlichen Gründen nicht ganz einfach.

Der erste Grund ist die Heterogenität der Adressaten und die damit zusammenhängenden unterschiedlichen Betreuungs- und Behandlungsformen, die in der Fachliteratur sowohl aus medizinischer, als auch aus (heil-)pädagogischer Sicht beschrieben werden.

Eigenständige kinder- und jugendpsychiatrische Überlegungen entstehen in Deutschland um 1900, was v. a. mit der Anerkennung von Kindheit und Jugend als eigenständigem Lebensabschnitt zusammenhängt. Das erste deutschsprachige Lehrbuch zu „Psychischen Störungen des Kindesalters” von H. Emminghaus stammt von 1887 [8]. Wenig später, 1904, erscheint der „Grundriss der Heilpädagogik” von Th. Heller, ein Lehrwerk, das sich zum Teil mit denselben Adressaten, allerdings aus heilpädagogischer Perspektive beschäftigt [15]. Bei Heller sind dies v. a. Kinder und Jugendliche mit angeborenen oder erworbenen Sinnesbehinderungen, mit Störungen der motorischen, sprachlichen, kognitiven oder emotionalen Entwicklung sowie Schwererziehbare und Dissoziale, während Emminghaus schwerpunktmäßig auf die so genannten Kinderpsychosen eingeht.

Die institutionelle Betreuung dieser insgesamt sehr heterogenen Klientel fand bis Mitte des letzten Jahrhunderts größtenteils in allgemeinpsychiatrischen Anstalten statt, z. T. auch in besonderen Erziehungsheimen, die wiederum mit psychiatrischen Anstalten verbunden waren (u. a. Psychiatrische Universitätsklinik Burghölzli, Zürich, Westfälische Klinik für Jugendpsychiatrie, Gütersloh).

Die disziplinäre Zuständigkeit u. a. im Hinblick auf die Diagnostik, die Behandlungsmethoden und die Unterbringung für diesen Bereich bewegt sich - besonders für die Klienten, für die keine organische Diagnose vorliegt - zwischen Pädiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie und Heilpädagogik, z. T. verbunden mit „Vorreiter”-Ansprüchen der unterschiedlichen Disziplinen. So bezeichnete der Arzt A. Czerny 1919 in seinen Vorlesungen zur Kinder- und Jugendpsychiatrie in Straßburg den „Arzt als Erzieher des Kindes” [5] und er verstand die Heilpädagogik als eine Art „angewandte Kinderpsychiatrie” ([27], S. 122).

Der Züricher Psychologe und Heilpädagoge Hanselmann weist hingegen 1953 im Nachwort seines erstmalig 1930 erschienenen Standardwerks „Einführung in die Heilpädagogik” mit aller Bestimmtheit „jene Hybris zurück”, die „auf psychiatrischer Seite hie und da zum Ausdruck kommt und in welcher der Heilpädagoge nur als eine Art Unterassistent oder als besserer Wärter betrachtet wird, der nichts anderes tun solle, als ärztliche Befehle auszuführen” ([13], S. 544). Eine Konkurrenz zwischen medizinischer und heilpädagogischer Zuständigkeit ist zwar weiterhin bis heute beobachtbar, sie soll allerdings für die Untersuchung der uns vorliegenden Quellen keine Rolle spielen, solange von derselben Klientel die Rede ist.

Ein zweiter Grund ist die Bezeichnung der körper- bzw. bewegungsbezogenen therapeutischen Aktivitäten. Sollen die wie im ersten Lehrbuch von Emminghaus aus dem Jahre 1887 empfohlenen therapeutischen Maßnahmen wie „warme Bäder” und „nasse Einpackungen” zur Bewegungstherapie gezählt werden oder handelt es sich hierbei um isolierte hydrotherapeutische Maßnahmen, die mit einem systematischen bewegungstherapeutischen Vorgehen wenig zu tun haben?

Wir haben uns für diese Untersuchung entschieden, solche Maßnahmen unter dem Oberbegriff Bewegungstherapie zusammenzufassen, die im weitesten Sinne als leib-, körper- und bewegungsorientiert zu bezeichnen sind und hierzu würde auch eine Stimulation durch Wasser gehören.

Unserer Suche liegt demnach ein weiter Begriff von Bewegungstherapie, der sich in der Spanne von physio- bis zu psychotherapeutischen Zugängen bewegt (vgl. [16] [19]), zugrunde. Das im Folgenden recherchierte Material (vorwiegend Lehrbücher und Fachartikel) wird im Hinblick auf eine Erwähnung und Bewertung der Bewegungstherapie ab Beginn des letzten Jahrhunderts untersucht. Die Darstellung der Ergebnisse wird in die thematischen Schwerpunkte „Adressaten” und „Ziele/Inhalte” unterteilt. Zum Abschluss erfolgen eine Literaturrecherche zu aktuellen Lehrbüchern und Fachzeitschriften sowie die aktuelle Einschätzung des Status quo v. a. im Hinblick auf Konzepte und die Anwendung in der Praxis und Forschung.

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Prof. Dr. Gerd Hölter

Universität Dortmund, Fakultät Rehabilitationswissenschaften, Bewegungserziehung und Bewegungstherapie in Rehabilitation und Pädagogik bei Behinderung

44221 Dortmund

Email: gerd.hoelter@uni-dortmund.de

Cand. Päd. Cordula Stobbe

Universität Dortmund, Fakultät Rehabilitationswissenschaften, Bewegungserziehung und Bewegungstherapie in Rehabilitation und Pädagogik bei Behinderung

44221 Dortmund

Email: cordula.stobbe@uni-dortmund.de

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