Notfall & Hausarztmedizin (Hausarztmedizin) 2005; 31(6): 261
DOI: 10.1055/s-2005-872323
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Der geriatrische Patient

Cornel Christian Sieber
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Publication Date:
05 August 2005 (online)

Der demographische Wandel in Mitteleuropa mit einer sich immer mehr an einen Kubus angleichenden Alters„pyramide” ist ein gesellschaftliches Phänomen, das sich seit Jahrzehnten abzeichnet. Gerne verdrängt, hat es durch plakative Aussagen, wie die von Herrn Frank Schirrmacher (Herausgeber der ZEIT) - so spricht er neulich von „Kollateralschäden der demographischen Revolution” - doch in letzter Zeit mehr öffentliches Bewusstsein erlangt.

Die über 80-jährigen Menschen sind die Bevölkerungsgruppe, die in Deutschland am Raschesten zunimmt. Deutschland hat seit 1972 einen Sterbeüberschuss, was auch zu einer Umorientierung des Gesundheitswesens führt. Viele angehende Fachärzte finden nur noch schwerlich eine Fachassistentenstelle in Pädiatrie - die Kinder sind einfach nicht mehr da. Parallel dazu nehmen die ärztlichen - und pflegerischen - Versorgungsaufgaben für immer mehr Betagte ständig zu. Dass Deutschland als eines der wenigen mitteleuropäischen Länder noch keinen Facharzt, oder wenigstens einen Schwerpunkttitel für das Fach Geriatrie hat, sei hier nur am Rande erwähnt.

Das Zielpublikum der Zeitschrift Notfall & Hausarztmedizin sind genau die Kolleginnen und Kollegen, die immer mehr Betagte und Hochbetagte betreuen. Dies deshalb, als betagte Menschen häufig multimorbide sind und deren chronische Krankheiten gerade die hausärztlich Tätigen mannigfaltig herausfordern. Daneben präsentieren sich Notfälle beim Betagten häufig atypisch und die Behandlung ist meist komplexer als beim jüngeren Menschen. Es wäre vermessen anzunehmen, dass in diesem Heft alle wichtigen geriatrischen Gebiete besprochen werden könnten. Als Beispiel seien hier nur die Demenzen sowie ethische Grenzfragen am Ende des Lebens erwähnt. Im Folgenden möchte ich aber kurz die einzelnen in diesem Heft besprochenen Themata nennen:

Wir GeriaterInnen sprechen heute gerne von „normal” und „successful aging”. Implizit dabei ist, dass Alterungsvorgänge einen natürlichen Vorgang darstellen. Demgegenüber hinterfragt die „Anti-Aging-Welle” dies und meint, Altern sei zu verhindern. PD Dr. Gassmann wird diese Facetten kritisch beleuchten. Der multimorbide betagte Mensch kann nur in einem interdisziplinären Team sinnvoll behandelt werden. Dazu gehört ein „geriatrisches Assessment”. Dies ist nicht „l'art pour l'art”, sondern führt evidenzbasiert zu einer verminderten Morbidität und Mortalität, wie Dr. Trögner in seinem Beitrag aufzeigt. Multimorbidität ist meist auch mit einer Polypharmazie vergesellschaft. Verminderte Funktionsreserven verschiedener Organsysteme, Interaktionen zwischen den Pharmaka wie auch Fragen zur Compliance erfordern spezielle Aufmerksamkeit und spezifisches Wissen. Darauf geht PD Dr. Mühlberg ein. Fehl- und Mangelernährung - hier speziell die Sarkopenie - ist nicht nur ein sehr häufiges Problem beim (Hoch)betagten, sondern bedingt eine hohe Morbidität und Mortalität mit großen gesundheitsökonomischen Folgen. Die Sarkopenie ist auch einer der Hauptursachen der „Frailty”, der für den geriatrischen Patienten typischen Gebrechlichkeit. Dr. Bauer erläutert die wichtigsten Ursachen und Therapieoptionen. Zu guter Letzt zeigt Dr. Heppner auf, dass gerade die Notfallmedizin immer mehr „geriatrisiert” wird. Sei dies in der Ambulanz - wo für den (Hoch)betagten spezifische Kenntnisse notwendig sind - oder im stationären Bereich. Allgemein steigt das Durchschnittsalter der Patienten auf Intensivstationen stetig an.

So wünsche ich den interessierten Leserinnen und Lesern Spaß bei der Lektüre dieser Artikel und mir selbst, dass dieses Heft dazu beitragen mag, weiteren Appetit auf spezifisch geriatrische Themata zu wecken.

Prof. Dr. med. Cornel Christian Sieber

Lehrstuhl Innere Medizin V (Geriatrie), Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Direktor Institut für Biomedizin des Alterns

Chefarzt Klinik II Klinikum Nürnberg

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