Klinische Neurophysiologie 2005; 36(2): 75-85
DOI: 10.1055/s-2005-866868
Originalia
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Ereigniskorrelierte Potenziale und kognitive Flexibilität

Event-Related Brain Potentials and Cognitive FlexibilityB.  Kopp1 , C.  Moschner1 , K.  Wessel1
  • 1Neurologische Klinik des Klinikums Braunschweig und Forschungsgesellschaft für Kognitive Neurologie, Institut an der Technischen Universität Braunschweig
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Publication Date:
01 June 2005 (online)

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Zusammenfassung

Einleitung: Adaptive Verhaltensflexibilität ist an die Kontrolle selektiver Aufmerksamkeit gebunden. Die neuropsychologische Erfassung kognitiver Flexibilität beruht im Wesentlichen auf der Messung von Perseverationstendenzen in Kartensortierverfahren wie dem Wisconsin-Card-Sorting-Test (WCST). Methode: In WCST-ähnlichen Kartensortieraufgaben übernahmen einfache Reize aufmerksamkeitskontrollierende Funktionen. Diese Reize wurden entweder unmittelbar vor (prospektive Kontrolle) oder unmittelbar nach (retrospektive Kontrolle) einzelnen Kartensortierungen dargeboten. 18 gesunde Probanden nahmen teil, von denen während der Aufgabendurchführung ereigniskorrelierte Potenziale (EKPs) abgeleitet wurden. Ergebnisse: Nach Mittelung über die aufmerksamkeitskontrollierenden Reize wurde eine frontozentrale positive Komponente (P3a) gemessen, deren Amplitude von dem Informationsgehalt des kontrollierenden Reizes (Wechsel vs. Wiederholung der Aufmerksamkeitseinstellung) und von den zeitlichen Charakteristika der Kontrollreize (prospektive vs. retrospektive Kontrolle) abhing. Diskussion: Die P3a in Kartensortieraufgaben stellt ein neuronales Korrelat überwachender Aufmerksamkeitskontrolle dar, die aufgabenrelevante Aufmerksamkeitseinstellungen selektiert und aufrechterhält und so adaptive Verhaltensflexibilität ermöglicht. Schlussfolgerung: Die berichteten Ergebnisse implizieren zweierlei: sie liefern Evidenz für die tatsächliche Existenz exekutiver Aufmerksamkeitskontrolle und sie weisen darauf hin, dass der präfrontale Kortex daran beteiligt sein könnte. Implikationen für die künftige Entwicklung von Aufgaben zur Erfassung kognitiver Flexibilität werden diskutiert.

Abstract

Introduction: Adaptive flexibility of behaviour is closely related to the supervisory control of selective attention. The neuropsychological assessment of cognitive flexibility is focussed on the analysis of perseverations in card-matching tasks such as the Wisconsin Card Sorting Test (WCST). Method: Variants of a card-matching task were established in which events that signalled the need to shift attention were presented before (prospective cuing) or after (retrospective cuing) the selection of responses. Eighteen healthy volunteers participated. Event-related brain potentials (ERPs) were collected from these individuals during their performance of the card-matching tasks. Results: Selective activity from particular brain regions (i. e., the P3a component of the ERP) was specifically associated with retrospectively, but not with prospectively, demanded shifts of attention. Discussion: The P3a in card-matching tasks provides a neural correlate of supervisory attentional control that selects and maintains task-relevant representations thus imposing attentional sets for adaptive flexibility in behaviour. Conclusion: The implications of this finding are twofold: It constitutes evidence favouring the actual existence of executive attentional shifts, and it characterises their neural implementation, the prefrontal region of the cerebral cortex. Implications for experimental techniques are discussed which may be designed in the future to challenge cognitive flexibility.

Literatur

1 Doppelaufgaben [42], ein weiteres populäres Paradigma zur Untersuchung exekutiver Funktionen, werden hier nicht betrachtet.

2 Ein Rückmeldereiz wurde in allen Kategorienhinweisbedingungen dargeboten, aber dieser vermittelte nur in der Wisconsin-Kartensortierprozedur ausschließliche Information über die serielle Ordnung korrekter Kategorien.

3 Auf den ersten Blick auf das vEOG mag es scheinen, dass das Auftreten der P3a in Reaktion auf Wechselereignisse in der Wisconsin-Kartensortierprozedur in Zusammenhang mit nichtzerebralen Artefakten stehen, die mit vertikalen Augenbewegungen und/oder Lidschlägen in Verbindung zu bringen sind. Zwei Argumente können zur Entkräftung dieser Artefakterklärung des P3a-Befundes herangezogen werden: Erstens stammte die vEOG-Aktivität überwiegend von zwei Probanden, deren Ausschluss keine substanziellen Effekte auf die P3a-Amplituden hatte. Zweitens lagen die mittleren Propagationsfaktoren (vEOG- und zentrale EEG-Elektroden verbindend, auf im Mittel M = 139,4 (SD = 60,6) Lidschlägen basierend) in der Wisconsin-Kartensortierprozedur nahe null (M [C3] = - 0,002, SD [C3] = 0,01, M [Cz] = - 0,008, SD [Cz] = 0,01, M [C4] = - 0,006, SD [C3] = 0,01), sodass angenommen werden kann, dass wenigstens die P3a an zentralen Ableitorten unabhängig von diesem okularen Artefakt war. Wie erwartet, korrelierten die drei frontalen EEG-Elektroden positiv (0,08 < M < 0,09) und die fünf temporoparietalen EEG-Elektroden negativ (- 0,06 < M < - 0,03) mit dem vEOG.

4 Hier wurde die frontozentrale Positivierung (vermutlich die P3a) als „P3b” bezeichnet, ein früherer positiver Gipfel (vermutlich die P2) wurde als „P3a” bezeichnet und ein späterer positiver Gipfel (vermutlich die P3b) wurde als „Slow Wave” bezeichnet.

PD Dr. Bruno Kopp

Neurologische Klinik des Klinikums Braunschweig

Salzdahlumer Straße 90

38126 Braunschweig

Email: b.kopp@klinikum-braunschweig.de